Der aufrechte Gang

Tübinger Paläontologin findet den ersten Fußgänger der Welt

01.04.2020

So sah er vielleicht aus: UDO Danuvius guggenmosi, der erste Fußgänger der Weltgeschichte. Bild: Andrea Bachmann

So sah er vielleicht aus: UDO Danuvius guggenmosi, der erste Fußgänger der Weltgeschichte. Bild: Andrea Bachmann

Am 17. Mai 2016, als Udo Lindenberg seinen 70. Geburtstag feierte, wurde der Tübinger Paläontologin Madeleine Böhme klar, dass die fast 12 Millionen Jahre alten 21 Knochenstücke, die sie aus der Ausgrabungsstätte Hammerschmiede im Allgäu geborgen hatte, Teil des Skelettes eines Männchens einer bis dahin unbekannten Art von Menschenaffen waren. Auf dem Heimweg nach diesem denkwürdigen Arbeitstag spielte ihr Autoradio einen Udo-Lindenberg-Song nach dem anderen. Und deshalb heißt der Menschenaffe aus der Hammerschmiede jetzt UDO.

Die Art, zu der dieses Individuum gehörte, nannte man Danuvius guggenmosi nach dem Fundort im Einzugsgebiet der Donau und dem Entdecker der Hammerschmiede, dem Amateurarchäologen Sigulf Guggenmos. Die Hammerschmiede ist mittlerweile ein sogenanntes Citizen Science Projekt, bei dem sich archäologisch interessierte Bürgerinnen und Bürger als freiwillige Helfer anheuern lassen können.

Die 21 Knochenstücke erlaubten Madelaine Böhme, die die Entwicklung der frühen Menschen im Kontext der Klimaentwicklung erforscht, den Bewegungsapparat dieses Menschenaffen zu rekonstruieren. Dessen Lendenwirbelsäule, die leichten X-Beine, seine Zehen und sein Sprunggelenk deuten darauf hin, dass UDO sich vermutlich am liebsten in Bäumen aufhielt, aber sich nicht wie ein Orang-Utan oder ein Schimpanse von Ast zu Ast hangelte, sondern eher langsam und bedächtig aufrecht und auf zwei Beinen durch die Bäume kraxelte.

Das war sensationell, denn diese Erkenntnisse widersprechen in wesentlichen Punkten den bisherigen Theorien zur Entwicklung von Menschen und Menschenaffen. UDO und seine Familie – man hat in der Hammerschmiede auch Knochenreste von zwei Weibchen und einem Jungtier gefunden – bewegten sich bereits vor etwa 12 Millionen Jahren aufrecht durchs Leben und nicht wie bislang angenommen vor sechs Millionen Jahre. Sie lebten nicht in Afrika, das als Wiege der Menschheit gilt, sondern in Europa – und zwar in Schwaben, genauer gesagt im Allgäu. Ihr Hauptlebensraum waren Bäume. Man kann davon ausgehen, dass sich UDO auch auf dem Boden zweibeinig fortbewegte, aber für längere Fußmärsche, Laufen oder gar Rennen war sein Greiffuß mit einem wie ein Daumen abgespreizten großen Zeh nicht geeignet. Der aufrechte Gang ist also nicht auf der Erde entstanden, sondern im Baum.

UDO, der Körperproportionen wie ein Bonobo hatte, konnte also gehen wie ein Mensch und klettern wie ein Menschenaffe und wird deshalb als bisher unbekanntes Bindeglied zwischen Mensch und Affe angesehen.

So sensationell diese Entdeckung auch sein mag – dass es solche Überraschungen in der Paläontologie gibt, findet Ernst Seidl, Leiter des Museums der Universität Tübingen, gar nicht so überraschend: „Vermutlich passen alle paläontologischen Funde, die man bisher geborgen hat, auf einen Lastwagen. Mit diesen Bruchstücken versuchen wir, Millionen von Jahren zu erklären. Das ist ungefähr so, als würde man ausgehend von einer antiken Skulptur und einer Coladose die Kulturgeschichte des Abendlands schreiben wollen.“

Bereits im Januar wurde im Museum der Universität eine kleine Ausstellung zu diesem großen Schritt in der Erforschung der Menschheitsgeschichte organisiert. Die kann man sich vorerst nur auf der Website des Museums anschauen – inklusive eindrücklichen Fotos der Tongrube Hammerschmiede, in der man seit 2011 etwa 15 000 paläontologische Funde geborgen hat, die 116 verschiedenen Arten an Fischen, Vögeln, Amphibien, Reptilien und Säugetieren zugeordnet werden können. In der Mitte steht eine kleine, vom Szenografen Stephan Potengowski gestaltete Gipsfigur, in die Replikate der gefundenen Knochen eingearbeitet wurden. Der erste Fußgänger. Ein gewaltiger Fortschritt in der Evolution.

Als Udo Lindenberg erfuhr, dass dieser etwa einen Meter große und 31 Kilo schwere Menschenaffe, der vor 12 Millionen Jahren auf zwei Beinen durch die Wälder des Teils der Erde turnte, der jetzt Mitteleuropa ist, seinen Namen tragen sollte, kam von dem Rockmusiker ein philosophischer Kommentar: „Ich war schon immer ein Vertreter des aufrechten Gangs.“ Andrea Bachmann

Das Museum der Universität ist wie alle anderen Museen in Tübingen geschlossen.

Zeit genug, um sich in aller Ruhe die Sammlungen daheim anzuschauen – sogar in 3d!

https://www.unimuseum.uni-tuebingen.de/de/sammlungen.html

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Erstellt:
01.04.2020, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 01.04.2020, 01:00 Uhr

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