Mangel an Charme

Tübinger Typografien: Egyptienne

Mit der Industrialisierung Anfang des 19. Jahrhunderts entsteht ein neuer Schrifttyp: die Egyptienne.

12.06.2019

Die Tübinger Kulturhalle ist mit der Schrifttype Egyptienne Bulletin Typewriter geschmückt. Bilder: Barbara Honner

Die Tübinger Kulturhalle ist mit der Schrifttype Egyptienne Bulletin Typewriter geschmückt. Bilder: Barbara Honner

Die Egyptienne, auch Serifenbetonte Linear-Antiqua genannt, ist eine kräftige Schrift mit gerade geschnittenen Serifen und optisch nahezu gleichbleibenden Strichstärken. 1817 tauchte sie in England zum ersten Mal auf und fand als Akzidenzschrift Eingang in die Schriftmusterbücher. Mit ihr ließen sich wirkungsvolle Headlines für sogenannte „Akzidenzien“, das heißt Plakate oder Zierschriften für Firmen, Geschäfte und Läden herstellen. Obwohl Kritiker der neuen Anzeigen- und Werbeschrift „typografische Monstrosität“ bescheinigten, war die Karriere der Egyptienne und ihrer Nachfolger nicht mehr aufzuhalten.

In Tübingen finden wir eine Generation der Straßennamenbeschriftung, die in der Egyptienne gehalten ist. Wir erkennen augenblicklich ihren konstruierten Charakter, weit entfernt von einer Handschriftenherkunft.

Die Egyptienne-Schriften selbst werden in unterschiedliche Schriftgruppen eingeteilt. Auch der Western-Stil (Italienne) gehört dazu, den wir von den amerikanischen „Wanted“-Plakaten kennen (siehe TAGBLATT ANZEIGER vom 20.3.2019).

Das alteingesessene, nicht mehr existente Eisenwarengeschäft Bero in der Metzgergasse benützte die Beton Bold Condensed für seine Aufschrift, eine kräftige Schrift, sehr eng gesetzt, die 1931 ursprünglich von dem Schrift- und Buchgestalter Heinrich Jost (1889 – 1948) designt wurde. Sie gehört ebenfalls zu den Vertretern der Egyptienne-Schriftart und entspricht dem Zeitgeist der Reklameschriften, die keiner übersehen sollte. Heute wirkt die Egyptienne als plakative Auszeichnungsschrift in ihrer technischen Anmutung und den ausgeprägten eckigen Serifen etwas hölzern und lässt wenig Spielraum für Modernisierung. Bero konnte das egal sein. Hier bekam man das, was die Schrift impliziert: solides und stabiles Handwerkszeug. Hier wurden Nägel mit Köpfen verkauft.

Die etwas gefälligeren Varianten der Egyptienne werden wenig später zu Schreibmaschinen- und Zeitungsschriften. Ein Beispiel dafür finden wir als Aufschrift für die Kulturhalle und das Kulturamt in der Tübinger Nonnengasse. Ihr Name ist Bulletin Typewriter, und dieser Schriftschnitt stammt aus dem Jahr 1991. Ihr Mangel an Charme passt hervorragend zu diesem wenig ansprechenden Gebäude im Besitz der Stadt. Barbara Honner

Die Schrift Beton Bold Condensed passte gut zum Tübinger Eisenwarengeschäft Bero, das stabiles Werkzeug verkaufte.

Die Schrift Beton Bold Condensed passte gut zum Tübinger Eisenwarengeschäft Bero, das stabiles Werkzeug verkaufte.

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Erstellt:
12.06.2019, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 1min 57sec
zuletzt aktualisiert: 12.06.2019, 01:00 Uhr

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