Quadrat als Basis

Tübinger Typografien: Golden Type

14.11.2018

Der Schriftzug des BuchKaffees ist in so genannten Kapitälchen gehalten, bei denen die kleinen Großbuchstaben ungefähr die Höhe der Kleinbuchstaben haben.Bild: Barbara Honner

Der Schriftzug des BuchKaffees ist in so genannten Kapitälchen gehalten, bei denen die kleinen Großbuchstaben ungefähr die Höhe der Kleinbuchstaben haben.Bild: Barbara Honner

Die Geschichte der Buchstaben des BuchKaffees Vividus im historischen Tübinger Nonnenhaus beginnt in der Renaissance. Als der französische König Charles III. 1458 den Kupferstecher Nicolas Jenson (1420–1480) heimlich nach Deutschland schickte, um mit dessen Hilfe die deutsche Kunst des Druckens mit beweglichen Lettern auszuspionieren, ahnte niemand, dass ihn seine um 1470 in Venedig geschnittene und nach ihm benannte Jenson-Antiqua zum einflussreichsten Druckmeister seiner Zeit und der lateinischen Schriftgeschichte überhaupt machen sollte. Aus der Verbindung von handschriftlichen Klein- und lateinischen Großbuchstaben (Trajan, siehe TAGBLATT ANZEIGER vom 23.5.2018) schnitt Jenson, der nie wieder nach Frankreich zurückkehrte, eine bisher nie da gewesene kraftvolle und schöne Leseschrift.

Diesen Geniestreich griff 520 Jahre später der Engländer William Morris (1834–1896) wieder auf. Auch Morris war ein vielseitig begabter Mann. Die Historie kennt ihn als Maler, Architekten, Dichter, Kunstgewerbler, Ingenieur und Drucker. In die Geschichte ging er vor allem als Entwerfer von Teppich-, Tapeten- und Stoffmustern, als Begründer der sozialistischen Bewegung in Großbritannien und als einer der Gründer der „Arts and Crafts Movement“ ein, ohne die Werkbund, Art Nouveau, die Secession und das Bauhaus nicht denkbar wären.

Morris war angewidert von der seelenlosen industriellen Produktion und ihren damit verbundenen sozialen Folgen. Die Rückkehr zur individuellen Handarbeit sollte den Handwerker als Künstler und den Künstler als Handwerker würdigen. 1891 gründete Morris sogar seinen eigenen Verlag, die Kelmscott Press in Hammersmith bei London, um vollkommene Bücher mit gutem Papier und vor allem schöner Schrift zu verlegen. Schlicht sollte sie sein, gut lesbar und alles andere als viktorianisch verschnörkelt. Die solide Jenson-Antiqua aus dem 15. Jahrhundert inspirierte ihn zu seinen auf dem Quadrat aufgebauten Buchstaben mit kräftigen, rechtwinkligen Serifen, die fest auf der Grundlinie stehen. Er nannte sie Golden Type, nach der von ihm verlegten Übersetzung des mittelalterlichen Volksbuchs „Legenda aurea“. Heute ist die Schrift als ITC Golden Type erhältlich, die von den Designerinnen Helga Jörgenson und Sigrid Engelmann 1989 fein nachbearbeitet wurde. Der Schriftzug des BuchKaffees ist in so genannten Kapitälchen gehalten, bei denen die kleinen Großbuchstaben ungefähr die Höhe der Kleinbuchstaben haben. Gute Typografen verwenden im Digitalsatz natürlich den dafür eigens angefertigten Schriftschnitt. Barbara Honner

Unter dem Titel „Altstadtschriften. Tübinger Typografien“ hat Barbara Honner 2017 beim Bürger- und Verkehrsverein eine umfassende und reich bebilderter Studie veröffentlicht.

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Erstellt:
14.11.2018, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 13sec
zuletzt aktualisiert: 14.11.2018, 01:00 Uhr

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