Wilder Westen im Süden

Tübinger Typografien: Rodeo Clown

Mit kaum einem anderen Schrifttypus assoziieren wir so eindeutige Vorstellungen wie mit „Westernschriften“. Wir befinden uns augenblicklich am Fuß der Blauen Berge oder bei den Cartwrights auf der Ponderosa. In Dodge City rauchen die Colts und irgendeiner wird immer gesucht („Wanted“).

20.03.2019

Von Barbara Honner

Mit der Rodeo Clown zelebriert das Tattoo-Studio in der Tübinger Katharinenstraße die klassische Westernästhetik. Bild: Barbara Honner

Mit der Rodeo Clown zelebriert das Tattoo-Studio in der Tübinger Katharinenstraße die klassische Westernästhetik. Bild: Barbara Honner

Das Tätowierungsstudio „Fraternity / Tattoo Parlour“ des deutsch-brasilianischen Künstlers Christopher Frutos liegt zwar nicht am Fuß der Blauen Berge, sondern in der Tübinger Katharinenstraße, verwendet aber trotzdem die Schriftart mit der klassischen Western-Ästhetik. Diese entstand mit vielen anderen Zieralphabeten während des 19. Jahrhunderts und weist einen ausgesprochen dekorativen Charakter auf mit imposanten Serifen (Endfüßchen), seitlichen Spornen und phantasievollen Musterungen. Oft werden die Aufschriften („Saloon“) von schwungvollen Arabesken und üppigen Illustrationen eingerahmt. Dass ein Tattoo-Studio, welches seine Motive in der Regel anderen Genres entnimmt, sich für eine Westernschrift entscheidet, ist originell.

Die „Rodeo Clown“ ist nicht nur ein schönes Beispiel für eine Westernschrift in Tübingen, sondern auch ein Exempel für die Gestaltung eines Klassikers durch die Wiederbelebung eines Originals und die erneute Publizierung dieses Klassikers durch „Neubearbeitung“ unter einem anderen Namen. Aber der Reihe nach: Im Jahr 1854 verlegte die amerikanische „Wells & Webb Type Company“ einen berühmt gewordenen Schriftenkatalog. Die geniale Schriftgestalterin Carol Twombly (Trajan, siehe TAGBLATT ANZEIGER vom 23. Mai 2018). war hingerissen von den alten Westernschriften. 1994 bearbeitete sie einige dieser Schriften für den digitalen Satz neu. Ihre „Zebrawood“ ist bis heute ein Klassiker.

Sechs Jahre später gründete der amerikanische Fotograf Michael Hagemann seinen eigenen Schriftenshop und widmete sich fortan der Neu- und Nachgestaltung und dem Verkauf von alten Western- und Zirkusschriften. Seine „Rodeo Clown“ aus dem Jahr 2000, die wir in der Tübinger Südstadt vorfinden, ist Twomblys Klassiker äußerst ähnlich. Die Abweichungen sind minimal.

Jeden Tag kommen neue Schriften und Fonts auf die Welt – schöne und zuverlässige, aber auch überflüssige und missglückte. Die unüberschaubare Anzahl von Schriften macht es heute sogar Typospezialisten schwer, Schriften ohne direkten Vergleich exakt zu bestimmen. Barbara Honner

Unter dem Titel „Altstadtschriften: Tübinger Typografien“ hat Barbara Honner 2017 beim Tübinger Bürger- und Verkehrsverein eine umfassende und reich bebilderte Studie veröffentlicht.

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Erstellt:
20.03.2019, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 1min 58sec
zuletzt aktualisiert: 20.03.2019, 01:00 Uhr

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