Unterm Vorhang die Zeiten überstanden

Tübinger Typografien: Verborgene Schriften

Man kann Stadtschriften nicht nur vernichten, man kann sie auch verbergen. Aber auch dann verschwinden sie von der Bildfläche.

02.10.2019

Die Weinhandlung Vinum in der Tübinger Langen Gasse: Der rote Vorhang mit der Aufschrift „Vinum“ verbirgt die vorherige Geschäftsaufschrift „Weinhaus Depperich“. Bilder: Barbara Honner

Die Weinhandlung Vinum in der Tübinger Langen Gasse: Der rote Vorhang mit der Aufschrift „Vinum“ verbirgt die vorherige Geschäftsaufschrift „Weinhaus Depperich“. Bilder: Barbara Honner

Versteckt unter dem roten Vorhang des „Vinum – Weine und Feines“ in der oberen Langen Gasse haben die kompakten Buchstaben der Geschäftsaufschrift der ehemaligen Weinhandlung Karl Depperich auf diese Weise immerhin überlebt. Wie die Pietzcker-Lettern am Lustnauer Tor (s. TAGBLATT ANZEIGER Nr. 6, Februar 2019) als Vermächtnis die Zeiten überstanden haben und für die Bücherstadt Tübingen stehen, gehören die blockigen Buchstaben zur typografischen DNA der Stadt und sind Teil der Tübinger Weinbauernvergangenheit.

Die mit Steinplatten vorgeblendete Hausfassade im ersten Stock stammt von 1968 und deutet mit Weinranken und Trauben auf diesen historischen Standort hin. Das gotische Portal aus dem Jahr 1515 weist das Haus als altes Bürgerhaus der Altstadt aus.

Karl Depperich stammte aus einer angesehenen Tübinger Küferfamilie, die 1889 hier in der Langen Gasse eine Küferei eröffnete. Karl Depperich lernte ebenfalls das Küferhandwerk, verstand aber ebenso viel vom Wein, seinem Ausbau und seiner Lagerung. Fässer, die erste hydraulische Presse Tübingens und Gewölbekeller waren vorhanden, außerdem besaß die Familie seit 1924 eine Konzession zum Schnapsbrennen. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg eröffnete Depperich neben seiner Küferei eine Weinhandlung. Mit seiner Frau Paula, die Erfahrung aus dem Feinkosthandel mitbrachte, belieferte er vor allem Gastwirte und Großkunden mit offenen Weinen und Flaschen aus dem Heilbronner Land.

Der Tübinger Wein entsprach damals noch nicht der Qualität, wie er sie heute wieder aufweist. Die Weinhandlung mit verwandtschaftlichen Beziehungen zum Weinhaus Schmid in der Jakobsgasse existierte bis in die 1980er-Jahre. Mit dem Einzug des Vinum ist wenigstens der „Weinstandort“ erhalten geblieben. Möge dies auch den Karl-Depperich-Weinhaus-Buchstaben widerfahren! Barbara Honner

Tübinger Typografien: Verborgene Schriften

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Erstellt:
02.10.2019, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 1min 50sec
zuletzt aktualisiert: 02.10.2019, 01:00 Uhr

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