Ein Gespenst in Kirchentellinsfurt?

Um das Jahr 1700 wurde Wasser einem Vater und seinem Sohn zum Verhängnis

03.03.2021

Heimatforscher Helmut Thumm und seine Ehefrau Marianne, die das Lektorat übernahm. Bild: Gabriele Böhm

Heimatforscher Helmut Thumm und seine Ehefrau Marianne, die das Lektorat übernahm. Bild: Gabriele Böhm

Erst vor kurzem hat Helmut Thumm das Ortsfamilienbuch Degerschlacht und Sickenhausen vorgestellt. Fünf Jahre akribischer Forschung hat der Rommelsbacher investiert, um aus Kirchenbüchern, Lagerbüchern, Steuer- und Herdstättenlisten oder Musterungslisten Namen, Lebensdaten oder Berufe im Zeitraum zwischen 1574 und 1910 aufzufinden. Daraus erstellte er auf beeindruckenden 588 Seiten die Stammbäume der Familien im Reutlinger Norden, in denen durch Eheschließungen auch viele Kirchentellinsfurter auftauchen.

Besonders spannend wird es, wenn sich aus den Daten ganze Geschichten zusammenfügen, wie diejenige der Familie Weber um 1700. Martin Weber wurde am 16. Januar 1650 geboren, also zwei Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges. Um 1678 heiratete er Maria Walter. Elf Kinder gingen aus der Ehe hervor, darunter ein 1681 geborenes Zwillingspärchen, das nur einen knappen Monat lebte. Den Namen des verstorbenen Jungen, Johann Georg, gab man dann einem später geborenen Sohn.

1690 wurden nochmals Zwillinge geboren, von denen das Mädchen nach wenigen Wochen verstarb, der Junge aber heranwuchs und das damals hohe Alter von 72 Jahren erreichte. Ein anderer Sohn, der 1687 geborene Johann Martin, wurde 76 Jahre alt und hatte 30 Jahre lang das Amt eines Richters inne. Seinen Bruder Johannes, kurz vor Weihnachten des Jahres 1691 geboren, ereilte jedoch ein tragisches Schicksal.

Als Johannes 16 Jahre alt war, 1707, half er mit, bei Altenburg einen Steg über den Neckar zu reparieren, der im vergangenen Winter durch Eisgang stark beschädigt worden war. Mit seinem „Truchen Karren“, laut Helmut Thumm ein Ackerwagen mit geschlossenen, schrägen Seitenwänden, fuhr er durch die Furt, die sich rund 100 Meter flussaufwärts befand. Doch an diesem Tag war die Strömung stark. Vielleicht hatte man Johannes noch von seinem Vorhaben abgeraten, vielleicht ihn auch dazu ermuntert. Sicher ist nur, dass er die Durchfahrt wagte, der Strom jedoch seinen Karren umwarf und Johannes ertrank. Nachdem man ihn gefunden hatte, wurde er am 22. Juli in Altenburg begraben. Die Bestattung, so Thumm, fand immer in demjenigen Ort statt, an dem die Person zu Tode kam.

Auch seinem Vater brachte das Wasser kein Glück. Mitte August 1728 machte sich Martin Weber, stolze 79 Jahre alt und „von jedermann für fromm gehalten“, zu Fuß auf den Weg zu seiner kranken Schwester in Kirchentellinsfurt. Immerhin rund vier Kilometer. Die Schwester war schon länger krank, Martin Weber muss die Strecke viele Male gegangen sein. Doch an diesem Sommertag verließen ihn auf dem Rückweg, gegen 18 Uhr, die Kräfte. Weber setzte sich unter einen Baum nahe beim „Fleckhen“ und fiel in tiefen Schlaf.

Dort fanden ihn zwei Männer aus Kirchentellinsfurt. Sie weckten ihn, halfen ihm hoch und empfahlen ihm, gleich nach Hause zu gehen. Martin Weber machte sich auf, doch dann geschah das Unglück. Er kam vom Weg ab, geriet in ein „Wasser“ und ertrank. Welches Gewässer damit gemeint ist, verraten die Akten nicht. Doch es gab viel Aufregung in Kirchentellinsfurt. Schnell machte der Verdacht die Runde, dass ein „Gespenst“, dass „in dem Refier von vielen Leuthen schon“ wahrgenommen worden sei, den alten Mann in die Irre geführt und ins „Wasser geworfen“ habe. Möglicherweise sind mit dem „Revier“ die 1867 in der Beschreibung des Oberamts Tübingen genannten Fluren „Obere und untere Bürge“ südlich von Kirchentellinsfurt gemeint, die bekannt für Spukerscheinungen gewesen sein sollen.

In jedem Fall war es sicher spannender, eine solche Gespenstergeschichte zu erzählen, als nur von einem tragischen Unglück zu berichten. Möglicherweise suchte man aber auch nach einer Erklärung, warum jemand plötzlich von einem gut bekannten Weg abkam und ertrank.

„Martin Weber war nicht vermögend, aber auch nicht arm“, so Helmut Thumm. In der Akte ist von einem „großen Guth“ die Rede, dessen Führung Weber sich aber 1725, also mit 76 Jahren, nicht mehr zugetraut hatte. Daher überschrieb er den Großteil seines Vermögens seinen fünf verbliebenen Kindern, die nach seinem Tod noch den Rest von rund 300 Gulden erhielten. Zum Vergleich: Das Haus des reichsten Bauern in Degerschlacht, Hans Walter, hatte einen Wert von 550 Gulden. Gabriele Böhm

Das Ortsfamilienbuch ist in den Bezirksämtern sowie bei der Firma Launer Kommunikationsdesign in Sickenhausen zu den üblichen Bürozeiten erhältlich.

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Erstellt:
03.03.2021, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 10sec
zuletzt aktualisiert: 03.03.2021, 01:00 Uhr

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