Der Kommentar

Und dann sind alle unglücklich

20.01.2021

Von Angelika Brieschke

„Das wird der Winter der Enttäuschungen“, dachte ich, als die Tagesklassenfahrt für meinen Sohn Anfang November abgesagt wurde. Eine Woche vorher wäre sie noch möglich gewesen, aber dann wurde wegen steigender Corona-Infektionszahlen der „Lockdown light“ ausgerufen, und nichts ging mehr in der Schule – außer Unterricht. Und auch der wurde Mitte Dezember beim dann „härteren Lockdown“ kassiert.

Lange Zeit liebäugelte ich mit der Idee, einen Kommentar zu veröffentlichen mit der Überschrift „Fällt aus“ mit angeschlossenem, gelb unterlegtem, leeren Textfeld. Wenn es ein „Wort des Jahres 2020“ für Redakteurinnen gegeben hätte, dann wäre mein Favorit „fällt aus“ gewesen. Und nicht „Corona-Pandemie“, das von der Gesellschaft für Deutsche Sprache gewählt wurde. Nur die sichere Gewissheit, dass mein Chef einen solchen Kommentar nicht witzig gefunden hätte, hielt mich davon ab.

Was haben wir nicht alles abgesagt in dieser Corona-Pandemie: Feste, Abschlussfeiern, Familientreffen, Reisen, Konzerte, Theater, Hockete, Kinoabende, Jubiläen, Flohmärkte, Silvesterfeuerwerke und und und. Eine endlos lange Reihe von Enttäuschungen.

Aber – das meiste sind nur Enttäuschungen. Mit denen kann man fertig werden, auch wenn manche richtig wehtun. Richtig bitter aber wird es, wenn‘s ans Eingemachte geht: Wenn wir nicht mehr sozial handeln können. Wenn wir Kindern keinen psychisch gesunden Alltag mehr bieten, unsere Alten zur Einsamkeit verdammen und sozial Schwache im Stich lassen – aus Pandemiegründen.

Eine solch bittere Entscheidung hat das Leitungsteam der Tübinger Vesperkirche getroffen, als es die Vesperkirche abgesagt hat – obwohl allen klar war, dass damit die Schwächsten mitten im Winter getroffen werden. Leicht hat sich das Team diese Entscheidung nicht gemacht. Pfarrer Christoph Wiborg erzählte am Telefon, wie lange und viel diskutiert, wie viele (Hygiene)Pläne ent- und verworfen, was alles durchdacht worden war. „Es ist ein so großes Projekt, irgendwann läuft einem die Zeit davon und man entscheidet immer unter Druck“, sagte er. „Und dann sind alle unglücklich.“

Schade, dass Menschen, die eigentlich nur gerne helfen wollen, Entscheidungen treffen müssen, die sie unglücklich machen.

Wir sind eines der reichsten Länder der Welt und geben Unmengen von Geld in dieser Pandemie aus. Die Frage ist: Geben wir es an den richtigen Stellen aus?

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Erstellt:
20.01.2021, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 07sec
zuletzt aktualisiert: 20.01.2021, 01:00 Uhr

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