Aus der Luft und zu Fuß (63)

Unterjesingen

30.01.2019

Von Andrea Bachmann / Bilder: Erich Sommer

Unterjesingen

Unterjesingen ist von der Sonne verwöhnt. Ein günstiges Lokalklima beschert dem Tübinger Teilort die Grand-Cru-Lage im Ammertal. Auch wenn von den Weinanbauflächen aus dem Mittelalter nur noch etwa ein Zehntel erhalten ist: Mit 11,5 Hektar Anbaufläche ist Unterjesingen die größte weinbautreibende Gemeinde im Kreis Tübingen. Bereits im Hochmittelalter avancierten die Hänge um Unterjesingen zu einem Hauptanbaugebiet. Da konnte man sich eine schöne Kirche gönnen: St. Barbara wurde im späten 15. Jahrhundert erbaut. Sie sieht aus wie eine kleine Schwester der Stiftskirche in Tübingen: Vor allem der Turm, der von einem Viereck in ein Achteck übergeht erinnert schon von weitem an die große Kirche der nahen Universitätsstadt. Auch der Chor mit dem aufwändigen Fischblasenmaßwerk und dem reichen Netzgewölbe ähnelt dem der Stiftskirche so sehr, dass man davon ausgehen kann, dass einer der Mitarbeiter von Hans Augsteindreyer, dem Baumeister der Stiftskirche, die Kirche in Unterjesingen erbaut hat.

Direkt neben der Kirche steht die 1784 vom Klosteramt Bebenhausen erbaute Kelter. Sie ist als einzige von fünf Keltern in und um Unterjesingen noch erhalten. Die anderen sind mit dem Weinbau verschwunden, der vor allem im 19. Jahrhundert fast vollständig zum Erliegen gekommen war. 1917 baute man in Unterjesingen nur noch fünf Morgen Wein an, das sind 1,25 Hektar, die nicht einmal mehr für den Hausgebrauch reichten.

Der Unterjesinger Oberlehrer Wilhelm Mönch fand das so bedauerlich, dass er sich für eine Renaissance des Weinbaus stark machte. Er gründete einen Obst- und Weinbauverein und radelte schon mal bis Weinsberg, um dort Reben für die Unterjesinger einzukaufen. Mit Erfolg: 1931 konnte man von den mittlerweile 150 Morgen genug Trauben für insgesamt 650 Hektoliter Wein ernten.

1986 wurde in der alten Kelter das „Isinger Dorfmuseum Alte Kelter“ eröffnet, in dem der Förderkreis der Unterjesinger Kelter eine umfangreiche Sammlung an Arbeitsgeräten von Weingärtnern, aber auch von Küfern, Schmieden, Wagnern und Sattlern zusammengetragen hat: eine Baumkelter, Spindelpressen, Tretzuber, Traubenmühlen und natürlich ein paar große Fässer erzählen vom Weinbau früherer Zeiten.

Neben der Kelter steht ein historisches Bauernhaus mit einem großen Gewölbekeller aus dem 15. Jahrhundert. Das Haus wurde ab 1609 gebaut. Bis 1986 wohnte hier eine Familie Zeeb. Dann übernahm es der Förderkreis der Unterjesinger Kelter und steckte einige Jahre Arbeit und viele Liter Herzblut in das alte Bauernhaus. Jetzt bietet es eine Zeitreise in die bäuerliche Lebenswelt um 1900, die von den alten Bettgestellen in der Kammer über den Holzbackofen bis zum Plumpsklo reicht.

Wenn damals die Familie zum Sonntagsgottesdienst ging, betrat sie eine üppig dekorierte Gegenwelt zu ihrem bäuerlichen Alltag: 1894 hatte die Gemeinde den Architekten Heinrich Dolmetsch mit einer grundlegenden Renovierung der mittlerweile ziemlich „verwohnten“ Kirche beauftragt. Dolmetsch schaffte mit großen Emporen Platz für die zahlreichen Gemeindeglieder und verpasste dem Gotteshaus eine neue, neugotische Ausstattung. Sämtliche Wände wurden, wie es vor der Reformation der Fall gewesen war, wieder bemalt. Die Fresken, die unter anderem Jesus als Weltenrichter und die zwölf Apostel zeigten, orientierten sich in ihrer Farbgebung, den dekorativ geschlungenen Linien und der aufwändigen floralen Ornamentik bereits am Jugendstil, der von Heinrich Dolmetsch mit größter Selbstverständlichkeit in die spätgotische Kirche integriert wurde.

1065 wollte man von all dieser Fin-de-siècle-Pracht nichts mehr wissen. Schlicht und einfach sollte alles sein und so nahm man ein paar Eimer Farbe und tünchte die Wände einfach weiß. Die Emporen verschwanden und die Kirche bekam eine moderne, flache Holzdecke. Wer jetzt die Wandmalereien aus dem 19. Jahrhundert sehen möchte, muss auf den Dachboden der Kirche steigen. Andrea Bachmann / Bilder: Erich Sommer