Der Kommentar
Verstaubtes Brauchtum
Argwöhnisch beäugte ich den amtlich aussehenden Brief, den ich aus unserem Briefkasten geholt hatte: Er war vom Tübinger Finanzamt und er war an meinen Ehemann adressiert – und zwar nur an ihn.
Das war merkwürdig, denn eigentlich erhalten wir vom Finanzamt Briefe, die an uns beide adressiert sind. Und nein: Mein Argwohn richtete sich nicht gegen meinen Mann, sondern gegen das Amt. Ich vermutete keineswegs finstere Finanzgeschäfte, über die mich mein Mann nicht informieren wollte. Ich erwartete in diesem Brief unseren gemeinsamen Grundsteuer-Meßbescheid, schließlich hatte ich schon vor sehr vielen Monaten unsere Grundsteuererklärung beim Tübinger Finanzamt eingereicht.
Genau das war‘s. Als mein Mann den Brief geöffnet hatte, konnte ich da unter der Bezeichnung „Steuerschuldnerin/Steuerschuldner“ meinen Namen an erster Stelle lesen, direkt vor dem Namen meines Mannes.
Was soll das denn? Da erhalte ich also einen amtlichen Steuerbescheid in einem Brief, den ich gar nicht öffnen darf? Dabei hatte das Finanzamt bislang keine Probleme, unsere zwei Namen in einem Adressfeld unterzubringen. Wieso es hier nur für einen Namen gereicht hatte und wieso das der meines Mannes war? Verstaubtes Brauchtum vermutlich. Denn nach Alphabet oder Alter hätte es mein Name sein müssen.
Nun kann ich grundsätzlich die Vorgehensweise des Finanzamts, sich der Einfachheit halber nur an einen Adressaten zu wenden, verstehen. Schließlich können württembergische Besitzverhältnisse kompliziert sein. Da kann es ja durchaus vorkommen, dass ein altes Haus, ein halbes Äckerle, ein Winz-Waldstück, eine Streuobstwiese und eine baufällige Großscheuer von 5 Enkeln und 7 Urenkeln geerbt werden – die sich dann diesen Grundbesitz teilen. Da passen natürlich niemals sämtliche Steuerschuldner in ein Brief-Adressfeld.
Aber nachdem sich Baden-Württemberg bei der neuen Grundsteuerberechnung für das denkbar bürokratischste und aufwändigste Verfahren entschieden hat, wäre eine kurze Abfrage auf dem Formular, wem denn bitte bei mehreren Eigentümern der Bescheid zugehen soll, schon noch möglich gewesen.