Vergangenheit verstehen

Victoria Marciniak hat einen Journalistenpreis gewonnen für ihr Hörspielfeature über die Serie „Unse

21.07.2021

Victoria Marciniak bei Radio Micro Europa, dem Campusfunk der Universität Tübingen. Bild: Ulrich Hägele / Uni Tübingen

Victoria Marciniak bei Radio Micro Europa, dem Campusfunk der Universität Tübingen. Bild: Ulrich Hägele / Uni Tübingen

Die 24-jährige Victoria Marciniak ist auf dem Weg in den Profi-Journalismus. In ihrem preisgekrönten Bachelor-Werkstück untersuchte sie, wie polnische und deutsche Medien auf das ZDF-Kriegsdrama „Unsere Mütter, unsere Väter“ reagierten. Ein Lerneffekt für Marciniak: Es gibt keine historischen Fakten ohne Kontext. Der TAGBLATT ANZEIGER sprach mit Victoria Marciniak.

Frau Marciniak, 2020 reichten Sie bei den Tübinger Medienwissenschaftlern Ihr Hörfunk-Werkstück ein und gewannen damit im Mai 2021 den Deutsch-Polnischen Tadeusz-Mazowiecki-

Journalistenpreis. Er zeichnet Beiträge aus, die das bilaterale Wissen und Verständnis fördern. Wie kam es denn dazu?

Ich habe nach einem Thema für meine Bachelorarbeit gesucht. Im Dezember 2018 las ich dann, dass ein polnischer Veteran der Heimatarmee das ZDF verklagt hatte – wegen der judenfeindlichen Darstellung der Untergrundarmee in der Miniserie „Unsere Mütter, unsere Väter“. Das fand ich spannend und habe weiter recherchiert, da ich für Anfang 2019 ein Praktikum in Warschau geplant hatte. Da hat das Thema dann einfach gepasst, vor allem, weil ich selbst polnische Wurzeln habe. Auf die Idee, das Werkstück einzureichen, brachte mich dann einer meiner Interviewpartner.

Warum genau sorgte der Dreiteiler für Empörung?

In Deutschland hat die Miniserie 2013 den Deutschen Fernsehpreis gewonnen, aber in Polen wurde sie stark kritisiert. Dazu muss man wissen: Die Heimatarmee hat in Polen eine große Bedeutung. Wer im Zweiten Weltkrieg in dieser Untergrundarmee kämpfte, trägt das heute noch wie einen Adelstitel. Es war für Viele in Polen verletzend, dass die Soldaten in der Serie pauschal antisemitisch dargestellt werden. Die Filme vermittelten die Botschaft: Am Ende sind wir alle Opfer des Krieges. Insbesondere die Deutschen.

Wieso zeigt der Sender Deutsche als Opfer und Polen als judenfeindlich?

Die Nachkriegsgenerationen waren von Scham- und Schuldgefühlen geprägt. Ich glaube, dass es verlockend sein kann, sich in die Vorstellung zu flüchten, dass die Vorfahren Opfer des übermächtigen NS-Systems waren. Niemand gibt gerne zu, dass der Vater oder der Großvater ein Massenmörder war.

An dem Drehbuch haben ja eigentlich auch Historiker mitgeschrieben und die begründen die antisemitische Darstellung der Heimatarmee in der Serie mit den Massakern von Jedwabne. Aber hier muss man klar trennen zwischen einzelnen Kriminellen in Polen und der staatlichen Politik in NS-Deutschland. Dazu kommt, dass von den sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden drei Millionen aus Polen kamen. Diese Tatsache ist in Polen viel präsenter und umso größer war dort auch das Unverständnis für die Darstellung der Heimatarmee in dem ZDF-Dreiteiler.

Können es Filmschaffende allen Seiten recht machen?

Die künstlerische Freiheit und die Pressefreiheit sind extrem wichtig und bei Spielfilmen kann man schon wegen des notwendigen dramatischen Aufbaus niemals allen beteiligten Perspektiven ganz gerecht werden. Aber vielleicht könnten Filmschaffende besser kennzeichnen, ob es sich jetzt um einen Spielfilm oder einen Dokumentarfilm handelt. Sonst kann es viel Irritation geben, wie wir gesehen haben.

Sie waren zur Recherche auch in Warschau. Wie floss das in Ihr Feature ein?

Ich habe in Warschau ein freiwilliges Praktikum im Auslandsbüro der Friedrich-Ebert-Stiftung gemacht. Da durfte ich beispielsweise ein Seminar für polnische Lehrkräfte mitorganisieren. Darin ging es unter anderem darum, wie sie Kindern erklären können, was während des Nationalsozialismus passiert ist, warum es passiert ist und was wir aus der Geschichte lernen können. Zu Gast war der polnisch-jüdische Journalist Konstanty Gebert, der neben einigen Lehrerinnen in meinem Feature zu Wort kommt.

Was halten Sie von dem Preis?

Ich freue mich sehr, dass meine Arbeit durch diesem Preis Anerkennung findet! Aber natürlich steht hinter einem Preis nie eine Einzelperson, sondern immer eine Redaktion. Mein Bachelor-Betreuer, Dr. Ulrich Hägele, hat mir viele wertvolle Tipps gegeben und die Universität Tübingen hat hervorragende technische Ausstattung zur Verfügung gestellt.

Mittlerweile studiere ich Journalismus im Master an der Deutschen Journalistenschule in München und der Preis motiviert enorm, mich weiter mit den deutsch-polnischen Beziehungen auseinanderzusetzen – darüber zu schreiben und zu sprechen.

Welche Erkenntnisse haben Sie bei der Durchführung der Arbeit gewonnen?

Was den methodischen Teil angeht, habe ich vor allem gelernt, mich gut auf Interviews vorzubereiten, kritisch nachzufragen und auch zuzugeben, wenn ich eine Erklärung nicht verstanden habe.

Was aber noch viel wichtiger ist, sind die inhaltlichen Erkenntnisse: Dass man die Reaktionen von Ländern – zum Beispiel auf einen Film – nur verstehen kann, wenn man ihre Vergangenheit versteht. Oder wie Konstanty Gebert in meinem Feature sinngemäß sagte: Es gibt keine historischen Fakten ohne Kontext.

Sehen Sie Wege, wie Erinnerungskultur insgesamt für junge Leute attraktiv gemacht werden kann?

Zuletzt fand ich beispielsweise das Instagram-Projekt @ichbinsophiescholl gut, weil es auf dieser Plattform viele junge Menschen erreicht. Durch solche Projekte bekommen historische Namen und Daten ein Gesicht, werden lebendig. Junge Leute können sich so leichter in diese Zeit hineinversetzen und bekommen einen anderen Zugang zur Geschichte. Erinnerungskultur ist sehr wichtig – gerade im Hinblick auf das deutsch-polnische Verhältnis.

Fragen von Monica Brana

Das Hörspielfeature von Victoria Marciniak kann nachgehört werden. Den Link dafür findet man unter https://micro-europa.de, der Internetseite des Campusfunks der Universität Tübingen.