Der Kommentar

Vorsicht Übergewicht!

20.03.2019

Von Fred Keicher

Die Mühlstraße ist die ungesundeste Straße in Tübingen. Nein, ich meine nicht die Autoabgase. Nein, ich meine auch nicht die Kneipe, in der man rauchen und saufen kann, bis dem Morgen graut. Nein, die Mühlstraße hat einen Kipppunkt erreicht. Die Hälfte der Läden dort sind jetzt Imbisse. Für Menschen wie mich sollte eine fürsorgliche Behörde eine Lebensmittelampel dort aufstellen und ein Schild mit der Warnung: Vorsicht. Übergewichtige laufen hier Gefahr, noch übergewichtiger zu werden.

Aber welchen Weg von der Neckarbrücke zur Universitätsbibliothek könnte der leidenschaftliche Esser beim Gehen denn überhaupt noch gehen? Etwa die Neckargasse? Das Warnschild müsste hier heißen Übergewichtige laufen hier noch größere Gefahr!

Auch Jüngere erinnern sich an Zeiten, in denen es in der Mühlstraße überhaupt nichts zu essen gab. Man konnte dort sogar Bücher kaufen. Die Verwandlung der Tübinger Gassen in Fressgassen scheint unausweichlich zu sein. Und Menschen wie ich, die gerne im Gehen essen, sind einer permanenten Versuchung, einer ständigen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt.

Die Bäcker etwa bieten Fitness-Brötchen und Jogging-Brot an. Sie geben sich als die Garanten einer gesunden Ernährung. Und was legen sie ganz vorne in die Auslage? Die süßen Stückchen. Und wie glänzt doch der Zuckerguss ihres Überzugs. Es gibt einen Tübinger Bäcker, bei dem finden sich noch Mengen ungeschmolzenen Zuckers unter der Mantelkruste des Wiener Apfelkuchens.

Neulich vor der Theke eines Tübinger Bäckers: Die Wahl fällt auf ein verschlungenes Teilchen mit Mohn, ertränkt im Zuckerguss. Eines ist keines, sagt sich der Dicke. „Zwei sind im Angebot“, erwidert die Verkäuferin. Aber es ist doch schon eines zu viel, sagt der Dicke. „Sie können ja eines auf Morgen aufheben oder einfrieren“, rät die Verkäuferin. Sie wisse doch genau, dass keines die nächste halbe Stunde überleben wird, gesteht der Dicke. Genau das versteht die Verkäuferin sofort. „Wenn man hier arbeitet, nimmt man zu wie in der Schwangerschaft“, gibt sie einen Hinweis auf die Nebenwirkungen der Tätigkeit als Bäckereiverkäuferin. „Deshalb zahlt unser Chef auch das Fitnessstudio.“

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Erstellt:
20.03.2019, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 20.03.2019, 01:00 Uhr

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