Konspirativer Treff im Prophetenstüble

Während des Nationalsozialismus versteckten sich Zeugen Jehovas in der Lustnauer Mühle

Am heutigen Holocaust-Gedenktag erinnert der Landtag von Baden-Württemberg an die Verfolgung der Zeugen Jehovas während der nationalsozialistischen Diktatur. Die Lustnauer Mühle war in dieser Zeit ein konspirativer Treff der Religionsgemeinschaft.

27.01.2021

1938 lässt sich Charlotte Nagel in der Badewanne der Lustnauer Mühle heimlich als Zeugin Jehovas taufen. Bild: Mirjam Strohmaier

1938 lässt sich Charlotte Nagel in der Badewanne der Lustnauer Mühle heimlich als Zeugin Jehovas taufen. Bild: Mirjam Strohmaier

Wo heute ein italienischer Wirt seinen Gästen frische Pizza aus dem Holzofen und andere mediterrane Spezialitäten serviert, wurde bis 1972 Getreide gemahlen. Während der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland wird die Lustnauer Mühle zu einer Zuflucht für Opfer dieser Diktatur: Die Familie Gölz nimmt Zeugen Jehovas auf, die wegen ihrer religiösen Überzeugung verfolgt werden. Das so genannte Prophetenstüble ist ein konspirativer Treff der verbotenen Religionsgemeinschaft. „Rund zehn Personen trafen sich hier regelmäßig zu Bibelbetrachtungen“, erinnert sich Mirjam Strohmaier an die Erzählungen ihrer Eltern. „Darunter auch der damalige Lustnauer Totengräber Eugen Märkle“, berichtet die Tochter von Christian Nagel, dem letzten Lustnauer Müller. Obwohl das Gebäude häufig von der Gestapo durchsucht wird, bleibt das Versteck im zweiten Stock unentdeckt. Denn es kann nur über einen von Hand betriebenen Aufzug erreicht werden, dessen Zugang im Maschinenraum von einem großen Getreidesieb verdeckt ist.

Heinrich Dickmann unterstützt die Untergrundarbeit der Zeugen Jehovas als Kurier. Regelmäßig bringt er den neuesten Wachtturm aus Stuttgart in die Mühle, die auch ein Depot illegaler biblischer Literatur ist, und schreibt ihn dort ab. Im KZ Sachsenhausen muss Heinrich Dickmann am 15. September 1939 mit ansehen, wie sein Bruder als religiös motivierter Kriegsdienstverweigerer erschossen wird.

Dass die Lustnauer Mühle während der Hitlerzeit zum Zentrum einer verbotenen Religionsgemeinschaft wird, geht auf die missionarischen Aktivitäten von Albert Bechtle zurück. Der Pfrondorfer bringt mit seinem Getreide auch die Botschaft der Bibelforscher – wie die Zeugen Jehovas damals genannt werden - in die Mühle. Bei der Schwester des Müllers Karl Gölz fällt Bechtles Predigt zuerst auf fruchtbaren Boden - Luise Gölz schließt sich 1933 den Zeugen Jehovas an. Drei Jahre später bekennt sich Paula Gölz, die Frau des Müllers, zu den verfolgten Christen. Und 1938 lässt sich ihre Tochter Charlotte in der Badewanne der Mühle heimlich als Zeugin Jehovas taufen.

1948 heiraten Charlotte Gölz und Christian Nagel. Enttäuscht von den Geistlichen, die Hitler unterstützten und während des Zweiten Weltkriegs die Waffen segneten, wendet sich der damals 27-jährige Nagel von der evangelischen Kirche ab und engagiert sich bis zu seinem Tod im Jahr 2000 bei den Zeugen Jehovas. Und als sich die Zeugen Jehovas in den 1960er Jahren in der Lustnauer Turnhalle zu Kongressen treffen, funktioniert er die Mühle zur Spülküche um. Gastfreundschaft war auch das Markenzeichen von Charlotte Nagel, die 2010 im Alter von 89 Jahren gestorben ist. Stefan Zibulla

Wegen der Corona-Pandemie findet die Gedenkfeier im Landtag am heutigen Mittwoch, 27. Januar, als digitale Veranstaltung statt und kann unter www.ltbw.de/gedenken angeklickt werden. Die Feier, die um 8.30 Uhr beginnt, steht später auch in der Mediathek des Landtags zur Verfügung.

Als Untergrund-Kurier bringt Heinrich Dickmann den Wachtturm in die Lustnauer Mühle.Bild: Wachtturm-Gesellschaft

Als Untergrund-Kurier bringt Heinrich Dickmann den Wachtturm in die Lustnauer Mühle. Bild: Wachtturm-Gesellschaft

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27.01.2021, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 27.01.2021, 01:00 Uhr

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