Der Kommentar
Weichen stellen statt ausweichen
Gemeinsames Lernen bis zur 10. Klasse – das war von Anfang an das Ziel der Konzeption der Französischen Schule Tübingen (siehe Gespräch mit deren früherem Rektor Paul-Gerhard Jud auf Seite 4).
„Gemeinsames Lernen“ – sogar bis zum Abitur – ist in Baden-Württemberg seit 2012 möglich. Die Landesregierung hat damals eine neue Schulform erschaffen: die „Gemeinschaftsschule“ (GMS). Dort werden Schülerinnen und Schüler auf drei Niveaus gemeinsam unterrichtet und sie können die Schule mit einem Hauptschul- oder einem Realschulabschluss beenden, in einigen Gemeinschaftsschulen sogar mit dem Abitur.
Klingt gut, oder? Nun ja, aber nur, wenn man gemeinsames Lernen von Kindern auf unterschiedlichen Niveaus gut findet. In Tübingen finden das regelmäßig deutlich mehr als 70 Prozent der Viertklass-Eltern nicht: Sie schicken ihre Kinder lieber aufs Gymnasium. Gerne auch mal gegen die Schulempfehlung der Klassenlehrerin und ohne darüber nachzudenken, was es für ein Kind bedeutet, wenn es als „Rückläufer“ vom Gymnasium in die Gemeinschaftsschule wechseln muss, wenn es beim Tempo und Niveau im Gymnasium nicht mithalten kann. Das kann man leider nicht schönreden: Für das Kind ist das ein Versagen.
„Tübingen ist in einer schwierigen Situation“, meinte Paul-Gerhard Jud diplomatisch zu der Frage, ob die GMS hier als Erfolgsmodell angesehen werden könne. Und man darf nicht übersehen: Viele neu geschaffenen Gemeinschaftsschulen, vor allem im ländlichen Raum mit wenig Kindern, sind über diese Schulform glücklich – und machen eine gute Arbeit.
Die bizarre Situation in Tübingen, wo das Gymnasium zur Regelschule und die Gemeinschaftsschule langsam zur Restschule wird, zeigt aber überdeutlich, dass die Landesregierung mit der Einführung der Gemeinschaftsschule einer nachhaltigen Schulreform feige ausgewichen ist. Wenn man sich schon nicht getraut hat, für das gemeinschaftliche Lernen in der GMS auch die Gymnasien abzuschaffen, dann wäre die richtige Schulreform gewesen, die Grundschulzeit zu verlängern, mindestens um zwei Jahre.
Es ist schon lange klar, dass die frühe Festlegung auf den späteren Schulabschluss – bereits in der 4. Klasse mit gerade mal 10 Jahren – eine Bildungskatastrophe ist, für die Kinder und auch für die Gesellschaft. In der Grundschule werden die Weichen für den weiteren Bildungsweg gestellt und wir wissen längst: Wir verlieren viel zu viele Kinder schon in der Grundschulzeit.