Aus der Luft und zu Fuß (61)

das historische Tübingen

16.01.2019

Von Andrea Bachmann / Bilder: Erich Sommer

das historische Tübingen

Wer bei Tübingen den Neckar überqueren wollte, musste sich jahrhundertelang mit einer Furt und seit dem 14. Jahrhundert mit einer Holzbrücke zufrieden geben. Erst nach der Universitätsgründung baute man eine massive Steinbrücke, die 1489 fertig gestellt wurde und fast 400 Jahre hielt. 1901 eröffnete ein Festumzug die neue Brücke, die 1950 verbreitert und modernisiert wurde.

Am 26. Oktober 1899 fuhr unter dieser Brücke das letzte Floß aus dem Schwarzwald durch Tübingen hindurch und den Neckar hinab. Jahrhundertelang wurde auf diese Weise Bauholz transportiert. Die Nähe zum Neckar war ein wesentlicher Standortfaktor bei der wichtigsten Entscheidung, die je über Tübingen getroffen wurde: der Gründung der Universität. Am Neckarufer entstand Ende des 15. Jahrhunderts ein neues Stadtquartier, das teilweise außerhalb der mittelalterlichen Stadtmauern lag und das der Beginn der Universitätsstadt Tübingen werden sollte. Die zur Stiftskirche erhobene und zu diesem Zweck umfassend vergrößerte und modernisierte Pfarrkirche Sankt Georg war bis zum Bau der Alten Aula das Zentralgebäude dieser außerordentlichen Bildungsinstitution, die die Geschichte der Stadt von da an prägen sollte.

Zunächst gab es jedoch eine Stadt und eine Universität. Die Bürger der Universität lebten in der zum Neckar orientierten Oberstadt, die Tübinger Handwerker, Bauern und Weingärtner waren im Ammertal, in der unteren Stadt, zu Hause. Zwei verschiedene Welten, die sich bis auf den heutigen Tag miteinander arrangieren müssen, auch wenn der Tübinger Gôg eine längst verschwundene Spezies ist – wenn es ihn denn je gegeben hat. 1909 stritten diese beiden Bevölkerungsgruppen über Neckarkorrektionen, Eisenbahntrassenverläufe und den Erhalt der Platanenallee, heute sind es Fahrradbrücken, Regionalbahnen und der Erhalt des Käsenbachtals.

Im 19. Jahrhundert ist Tübingen nicht mehr nur eine Stadt mit einer Universität, sondern eine Universitätsstadt. In der Wilhelmstraße entsteht ein neuer Campus, die Universität gründet drei neue Fakultäten und der indonesische Vulkan Tambora, die Reblaus und hygienisches Trinkwasser drehen dem Weinanbau langsam aber sicher den Hahn zu. Das akademische Bürgertum macht sich die Stadt zurecht. Ende des 19. Jahrhunderts bauen sich Studentenverbindungen wie die Rhenania Häuser, die für die damaligen Bauherren wie trutzige Ritterburgen aussahen und heute wie Hogwarts, und die Tübinger Ziegelei Clemens & Decker betrieb am steilen Südhang des Österberges eines der imposantesten und ungewöhnlichsten Bauvorhaben der Stadt: Auf gewaltigen Stützmauern aus Sandstein entstanden acht repräsentative Villen aus roten und gelben Backsteinen, ausgestattet mit Türmchen, Erkern, Giebeln, Rundbogenfenstern und allerhand anderen gründerzeitlichen Dekorationen. Hier wohnten Theologieprofessoren wie Adolf Schlatter und Paul Keppler in nachbarschaftlicher Ökumene, Diplomatenwitwen, Schriftstellerinnen, Botaniker und Oberbürgermeister. Auch der vermögende Kohlenhändler Wilhelm Gunzer war unter den glücklichen Bewohnern dieses rotgelbgestreiften Ensembles, das kritische Betrachter an einen Anker-Steinbaukasten (ein Lego-Vorläufer von 1882) erinnerte. Benannt wurde die Straße nach Königin Olga von Württemberg. Die schöne, elegante und gebildete russische Prinzessin war die passende Namenspatronin für dieses Idyll akademischen Großbürgertums, das noch heute zu den schicksten Adressen Tübingens gehört.

Direkt nebenan, am Kopf der Neckarbrücke, residierte Ludwig Uhland. Dessen Wohnhaus wurde im Zweiten Weltkrieg von einer der wenigen Bomben getroffen, die über Tübingen abgeworfen wurden. Das Haus auf der anderen Straßenseite, in dem sich das Kino Metropol und das Café Pomona befanden, war so kaputt, dass es ebenfalls abgerissen werden musste. Andrea

Bachmann /Bilder: Erich Sommer