Angriff auf die Religionsfreiheit

Zeugen Jehovas aus dem Kreis protestieren gegen Diskriminierung in Russland

Mit einem Brief an Wladimir Putin sowie weitere Vertreter von Regierung und Justiz protestiert Elmar Zeeb gegen das drohende Verbot der Zeugen Jehovas in Russland. Der 60-Jährige ist einer von rund 500 Zeugen Jehovas im Kreis Tübingen, die sich große Sorgen um die Religionsfreiheit ihrer Glaubensangehörigen in Russland machen.

05.04.2017

Dieses Foto aus dem Jahr 1951 zeigt Zeuginnen Jehovas, die nach Sibirien verbannt wurden, bei Hölzfällerarbeiten. Bild: Jehovas Zeugen in Deutschland

Dieses Foto aus dem Jahr 1951 zeigt Zeuginnen Jehovas, die nach Sibirien verbannt wurden, bei Hölzfällerarbeiten. Bild: Jehovas Zeugen in Deutschland

Am heutigen Mittwoch, 5. April, befasst sich der Oberste Gerichtshof mit dem Antrag des russischen Justizministeriums, die Religionsorganisation der Zeugen Jehovas für extremistisch zu erklären und zu verbieten. Sollte der Oberste Gerichtshof diesem Antrag stattgeben, würde nicht nur die Zentrale der Zeugen Jehovas bei Sankt Petersburg geschlossen werden. Alle rund 170 000 Zeugen Jehova in Russland würden in die Illegalität gedrängt werden. Die Gottesdienste, die von mehr als 2300 Gemeinden organisiert werden, wären verboten. „Das Eigentum des Zweigbüros sowie die Anbetungsstätten, die Jehovas Zeugen landesweit benutzen, könnten vom Staat beschlagnahmt werden“, heißt es in einer aktuellen Pressemittelung der Zeugen Jehovas. „Außerdem würden sich einzelne Zeugen Jehovas durch ihre bloße Glaubensausübung strafbar machen – z. B. nur wegen Gottesdienstbesuch, gemeinsamen Bibellesens oder Gesprächen mit anderen über ihren Glauben.“

Aufgrund des drohenden Verbots ihrer Glaubensausübung in Russland wenden sich die weltweit mehr acht Millionen Zeugen Jehovas mit einer Briefaktion direkt an Vertreter des Kremls und des Obersten Gerichtshofs um Hilfe. „Meine Familie gehört hier in Deutschland in der fünften Generation der christlichen Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas an“, schreibt Elmar Zeeb in seinem Brief an Wladimir Putin. Der Urgroßvater seiner Frau war wegen seiner Glaubensüberzeugung unter den Nationalsozialisten im Konzentrationslager, berichtet der Tübinger. Deshalb mache es ihn „fassungslos“, dass es im modernen Russland zu einer Entwicklung kommen konnte, die auf ein Verbot der Zeugen Jehovas abzielt.

Zeeb appelliert an den russischen Präsidenten, dafür zu sorgen, dass die verfassungsmäßig garantierte Religionsfreiheit auch für Jehovas Zeugen gilt. Zumal das Engagement dieser religiösen Gruppe die Nächstenliebe und die Achtung vor der Regierung fördere. „Ihre biblischen Veröffentlichungen beinhalten absolut nichts „Extremistisches“ oder Kriminelles!“, stellt Zeeb fest.

Seit 2009 wenden Behörden in ganz Russland das Gesetz zur Bekämpfung extremistischer Aktivitäten systematisch gegen Jehovas Zeugen an. Russische Gerichte haben Dutzende von Publikationen und auch die offizielle Website von Jehovas Zeugen (www.jw.org) für extremistisch erklärt. „Die Polizei hat Hunderte Hausdurchsuchungen in Privatwohnungen und Gotteshäusern durchgeführt“, sagt Wolfram Slupina. „Staatsanwälte haben Zeugen Jehovas verwaltungs- und strafrechtlich angeklagt, nur weil sie Gottesdienste besucht oder abgehalten haben“, so der Sprecher des Zweigbüros der Zeugen Jehovas für Zentraleuropa in Selters.

Von dieser Diskriminierung sind auch die Zeugen Jehovas in Tübingens Partnerstadt betroffen. Ohne einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss vorzuzeigen, stürmten bereits im vergangenen Sommer bewaffnete und maskierte Männer einer Polizei-Sondereinheit den Königreichssaal der Zeugen Jehovas in Petrosawodsk und beendeten den Gottesdienst, ist unter www.jw.org zu lesen. Wie die Homepage weiter berichtet, hat die Polizei erst fünf Ausgaben des Buches „Was lehrt die Bibel wirklich?“, in dem religiöse Grundlehren wie die Auferstehung oder das Reich Gottes thematisiert werden, im Gebäude versteckt, um sie während der Durchsuchung als fingierte Beweismittel zu beschlagnahmen. Und russische Medien berichteten, dass das Stadtgericht die Gemeinde der Zeugen Jehovas in Petrosawodsk wegen Besitz von Literatur „mit extremistischem Inhalt“ zur Zahlung einer Strafe in Höhe von 50 000 Rubel verurteilt hat.

Beobachter der Situation in Russland führen die Sanktionen gegen die Zeugen Jehovas auf Versuche orthodoxer Geistlicher zurück, das Extremismus-Gesetz zur Bekämpfung religiöser Konkurrenz zu instrumentalisieren. Zumal das Moskauer Patriarchat der russisch-orthodoxen Kirche aus seiner intoleranten Haltung gegenüber den missionarischen Aktivitäten der Zeugen Jehovas kein Hehl macht.

„Die orthodoxe Kirche umfasst ein breites Spektrum von Meinungen, von sehr konservativen bis zu liberalen“, erläutert Tilman Berger. „Gerade die konservativen Kreise sind oft eng mit staatlichen Stellen verwoben, unterstützen alle deren Maßnahmen und sind anderen Religionsgemeinschaften gegenüber feindlich gestimmt“, erklärt der Professor für slavische Sprachwissenschaft an der Universität Tübingen. „Die Kirchenleitung ist im Prinzip auch eher konservativ, tritt aber in der Öffentlichkeit vorsichtiger auf.“

Eine enge Verflechtung zwischen der Kirchenleitung und dem Staat lasse sich laut Berger nur schwer überprüfen. Deshalb wolle er zwar nicht behaupten, dass die Einschränkung der Religionsfreiheit offiziell von der Kirche gesteuert werde. Doch für den Slavist ist offensichtlich, dass konservative Kräfte in der Kirche „solchen Bemühungen positiv gegenüberstehen und teilweise eng mit dem Staat zusammenarbeiten“.

Die aktuellen Diskriminierungen erinnern Wassilij Kalin an die Zeit, als seine Familie als Opfer religiöser Verfolgung während der Sowjetära nach Sibirien verbannt wurde. „Als ich klein war, mussten Zeugen Jehovas jederzeit mit Hausdurchsuchungen rechnen“, berichtet der Sprecher der Zeugen Jehovas in Russland.

In der Sowjetunion wurden Jehovas Zeugen als „antisoziale Sekte“ mit brutaler Härte bekämpft. „Die Strafen sahen meist die Konfiszierung des gesamten Vermögens vor, die Aberkennung der Bürgerrechte und dann, gewöhnlich für 10 Jahre, Zwangsarbeit in einem Gulag-Arbeitslager in Mittelrussland oder Sibirien, wo Hunger, schwere Arbeit und Misshandlungen auf die vermeintlichen Deliquenten warteten“, heißt es in dem Buch „Jehovas Zeugen in Europa - Geschichte und Gegenwart“, das 2015 von den beiden Professoren Katarzyna Stoklosa und Gerhard Besier herausgegeben wurde. „Viele Zeugen Jehovas starben vorzeitig unter diesen unmenschlichen Bedingungen.“

In den 1950-er Jahren waren in den rund 80 Straflagern im Bezirk Workuta etwa 2000 Zeugen Jehovas interniert. Und in den Wolgasümpfen der Republik Mordwinien waren zeitweise mehr als 450 Zeugen Jehovas gleichzeitig inhaftiert. Noch in den 1980er-Jahren wurden sie wegen ihres Glaubens zu mehrjährigen Freiheitsstrafen in sowjetische Zwangsarbeitslager eingewiesen. Stefan Zibulla

Der Tübinger Slavist Tilman Berger beobachtet in Teilen der orthodoxen Kirche eine enge Verflechtung mit staatlichen Stellen und eine feindliche Haltung gegenüber anderen Religionen. Archivbild: Zibulla

Der Tübinger Slavist Tilman Berger beobachtet in Teilen der orthodoxen Kirche eine enge Verflechtung mit staatlichen Stellen und eine feindliche Haltung gegenüber anderen Religionen. Archivbild: Zibulla

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05.04.2017, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 05.04.2017, 01:00 Uhr

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