Leben ohne Weizen

Zöliakie – das Chamäleon unter den Krankheiten

Am 16. Mai ist Welt-Zöliakietag. Der TAGBLATT ANZEIGER sprach mit Bianca Maurer, Pressesprecherin bei der Deutschen Zöliakie-Gesellschaft, über die Krankheit mit dem komplizierten Namen und den Trend, sich glutenfrei zu ernähren.

10.05.2017

Von Angelika Brieschke

Bianca Maurer ist Pressesprecherin der Zöliakie-Gesellschaft.

Bianca Maurer ist Pressesprecherin der Zöliakie-Gesellschaft.

Was ist Zöliakie?

Zöliakie ist eine chronische Erkrankung des Dünndarmes, die auf einer lebenslangen Unverträglichkeit gegenüber dem Klebereiweiß Gluten beruht. Gluten kommt in den Getreidearten Weizen, Dinkel, Roggen und Gerste vor und auch in den alten Weizensorten Einkorn, Emmer und Kamut. Nimmt ein Zöliakiebetroffener Gluten zu sich, dann bildet der Organismus Antikörper gegen körpereigenes Eiweiß: Zöliakie ist also eine Autoimmunerkrankung. Der Organismus hält Gluten fälschlicherweise für schädlich und greift die Schleimhaut im Dünndarm an. Dadurch entstehen Entzündungen, die bewirken, dass die Ausstülpungen (die Zotten) im Dünndarm kürzer werden.

Durch die Zotten wird die Oberfläche des Dünndarms stark vergrößert: Ausgebreitet würde ein Dünndarm ungefähr so groß wie ein Tennisfeld sein. So gelangen die Nahrungsbestandteile schnell ins Blut. Sind die Zotten jedoch verkleinert, verringert sich die Oberfläche erheblich und damit auch die Fähigkeit, Nährstoffe aufzunehmen. Es kommt zu Vitamin- und Mineralstoffmängeln, zum Beispiel an Eisen, Zink, Vitamin B 12 und Calcium.

Wie sehen die Symptome aus?

Zöliakie hat vielfältige Symptome. Im Kindesalter zeigt sich die Erkrankung häufig in Form von Eisenmangel, Wesensveränderungen wie Unzufriedenheit oder Weinerlichkeit und verzögertem Wachstum. In späteren Jahren können Osteoporose, Kopfschmerzen, Müdigkeit, Depressionen oder sogar Unfruchtbarkeit auftreten. Klassische Symptome wie Durchfall und Bauchschmerzen zeigt nur ein geringer Teil der Betroffenen. Die Symptome sind so vielfältig und unterschiedlich ausgeprägt, dass kaum zwei Krankheitsfälle gleich sind. Zudem können sich die Symptome im Verlauf der Krankheitsgeschichte ändern. Mediziner bezeichnen die Zöliakie daher auch als „Chamäleon unter den Krankheiten“.

Ernährt man sich glutenfrei, kann sich der Darm schnell wieder regenerieren. Werden jedoch Diätfehler gemacht, ruft das neue Entzündungen hervor und das Risiko für Begleiterkrankungen wie Lactoseintoleranz, Osteoporose, Zahnschmelzdefekte oder Blutarmut steigt. Selbst kleinste Mengen an Gluten können neue Darm-Entzündungen hervorrufen. Es ist sehr wichtig, die glutenfreie Ernährung strikt und lebenslang einzuhalten.

Wie viele Betroffene gibt es? Sind es heute mehr als zum Beispiel vor 30 Jahren?

Etwa jeder Hundertste ist hierzulande von Zöliakie betroffen, das ergibt für Deutschland über 800 000 Betroffene.

Da die Anzahl der Zöliakiediagnosen noch nicht in einem Register erfasst wird, kann die Häufigkeit nur abgeschätzt werden, beziehungsweise die Ergebnisse der bundesweiten Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland hinzugezogen werden.

Der Anstieg der Zöliakiediagnosen ist auf die Einführung der Antikörpertests sowie auf die Verbreitung von systematischen Untersuchungen bei Familienangehörigen und bei Erkrankungen, die im Zusammenhang mit Zöliakie auftreten, zurückzuführen. So findet man heute schneller Patienten, die noch nicht diagnostiziert waren.

Was halten Sie von den Zöliakie-Selbsttests, die man in Apotheken kaufen kann?

Diese Schnelltests bieten keine Sicherheit, weshalb wir von der Verwendung definitiv abraten. Falsche positive Ergebnisse können ebenso auftreten wie eine voreilige Entwarnung. So erfahren manche nichts von ihrer Zöliakie-Erkrankung. Und andere halten sich lebenslang an eine aufwändige, strikte Diät, die gar nicht nötig ist.

Zöliakie lässt sich nur durch den Facharzt mit einem zweistufigen Diagnoseverfahren zuverlässig stellen: eine Blutuntersuchung und eine Gewebeprobe aus dem Dünndarm. Wichtig ist außerdem, dass man sich bis zur Diagnose glutenhaltig ernährt, denn eine vorsorgliche glutenfreie Ernährung verfälscht das Ergebnis der Untersuchungen.

Hilft der Trend, sich glutenfrei zu ernähren, den Zöliakiebetroffenen?

Auch wenn der Hype um die glutenfreie Ernährung zu einem stärkeren öffentlichen Fokus und zu einer Vergrößerung der Produktvielfalt führt, sehen wir das als Solidargemeinschaft für Zöliakiebetroffene kritisch. Der Trend, sich ohne medizinische Notwendigkeit glutenfrei zu ernähren, hat zahlreiche Missverständnisse und Nachteile zur Folge: Betroffene, die zwingend auf die glutenfreie Kost angewiesen sind, werden zum Teil weniger ernst genommen, wodurch das Kontaminationsrisiko bei der Speisenzubereitung extrem unterschätzt wird. Unter anderem deshalb, weil Gesunde, die sich ohne medizinischen Grund aus einem Trend heraus glutenfrei ernähren, die Diät häufig nicht konsequent einhalten. Oft erfahren die wirklich Betroffenen in der Gesellschaft dadurch weniger Akzeptanz und Unterstützung.

TAGBLATT ANZEIGER: Ist es sinnvoll, sich glutenfrei zu ernähren, wenn man nicht „glutenkrank“ ist?

Bianca Maurer: Ein Verzicht auf glutenhaltige Lebensmittel ohne medizinische Notwendigkeit ist nicht empfehlenswert, denn glutenfreie Produkte sind nicht per se gesünder. Die glutenfreie Ernährung bringt für Gesunde keine Vorteile – weder gesundheitlich noch was das Gewicht angeht, denn die glutenfreien Produkte enthalten in der Regel weniger Ballaststoffe und sind durch das fehlende Klebereiweiß trockener. Um das auszugleichen ist meist der Anteil an Zucker und Fett höher, wodurch einige Personen unter der glutenfreien Ernährung sogar zunehmen.

Was halten Sie von Bestsellern wie „Die Weizenwampe“ oder „Dumm wie Brot“? Macht der heutige Weizen wirklich krank?

Das Problem an diesen Büchern ist, dass viele Wahrheiten mit Halbwahrheiten oder auch reinen Spekulationen vermengt werden, so dass der Leser Fakten und Mythen kaum auseinanderhalten kann. So werden Ängste geschürt.

Bislang gibt es aber keine Studien, die zeigen, dass eine weizenarme Ernährung der gesunden Bevölkerung irgendeinen Vorteil bringen würde. Bei gesunden Personen wird Gluten, wie jedes andere Eiweiß in der Nahrung, von Verdauungsenzymen in seine einzelnen Bestandteile zerlegt und ruft hierbei keine Entzündungen oder sonstige Schäden hervor. Für Gesunde ist der Verzehr von Gluten beziehungsweise Weizen also harmlos.

Wird es bald ein Mittel gegen Zöliakie wie zum Beispiel gegen Lactoseintoleranz geben?

Derzeit ist die strikte glutenfreie Ernährung die einzige Möglichkeit für ein beschwerdefreies Leben. Momentan werden zwar verschiedene medikamentöse Ansätze erforscht. Die können aber selbst bei erfolgreichem Abschluss der Forschung die glutenfreie Ernährung nicht ersetzen, sondern lediglich als Begleittherapie eingesetzt werden.

Das bedeutet, dass dadurch geringe Gluten-Mengen keinen Schaden mehr anrichten, was dem Patienten, insbesondere im Hinblick auf Kontaminationen, mehr Sicherheit und Lebensqualität bieten könnte. Es werden jedoch sicherlich noch einige Jahre intensiver Forschung nötig sein, bis solche Medikamente verfügbar sind.

Was wünschen Sie sich für die Zöliakie-Betroffenen?

Wir wünschen uns von Restaurants und Ärzten eine Sensibilisierung für die Bedürfnisse der Zöliakiebetroffenen. Beispielsweise, indem Restaurants die Allergenkennzeichnung vorbildlich umsetzen und bereit sind, auf die Bedürfnisse der Zöliakiebetroffenen einzugehen, sie ernst zu nehmen und so für eine sichere glutenfreie Verpflegung – auch außer Haus – zu sorgen.

Von den Ärzten, gerade auch von den Hausärzten, wünschen wir uns eine gute Kenntnis des Krankheitsbildes der Zöliakie und ein fundiertes Wissen zur korrekten Diagnose, damit Betroffene nicht erst einen langen Leidensweg durchmachen müssen, bis bei ihnen die Zöliakie endlich erkannt wird.

Außerdem wünschen wir uns eine Anerkennung der Mehrkosten der glutenfreien Ernährung. Obwohl glutenfreie Produkte inzwischen in fast allen Supermärkten und Drogeriemärkten erhältlich sind, ist eine glutenfreie Ernährung immer noch deutlich teurer. Glutenfreie Fertigprodukte kosten durchschnittlich 30 bis 50 Prozent mehr als vergleichbare herkömmliche Lebensmittel. In Deutschland aber können nur Zöliakiebetroffene, die Sozialleistungen beziehen, einen monatlichen Zuschuss in Höhe von 70 Euro beantragen. In vielen anderen europäischen Ländern wird die glutenfreie Ernährung dagegen schon bezuschusst. Da sehen wir Verbesserungsbedarf und fordern eine solche Unterstützung auch für Deutschland.

Interview: Angelika Brieschke

www.dzg-online.de