Genetik im Schloss

Friedrich Miescher hat das Nuklein entdeckt

17.08.2016

Ein Museum auf Schloss Hohentübingen erinnert an Friedrich Mischer. Bild: Bachmann

Ein Museum auf Schloss Hohentübingen erinnert an Friedrich Mischer. Bild: Bachmann

Pfui Teufel! Es ist vielleicht doch gut, dass er nicht Arzt geworden ist. Der junge Friedrich Miescher kämpft tapfer den Ekel herunter, als er die Binden auseinander schlägt, die ihm der Bote aus dem Universitätsklinikum gebracht hat. Sie sind voller Eiter und riechen – nun ja, er sollte froh sein, dass er das noch wahrnehmen kann. Seit seiner Kindheit ist er schwerhörig. Trotzdem hat er mit 17 Jahren ein Medizinstudium begonnen. Schon sein Vater und sein Onkel waren Ärzte und Professoren an der Basler Universität. Aber die Schwerhörigkeit hätte den Kontakt mit zukünftigen Patienten allzu sehr behindert. Da war es naheliegend gewesen, sich ganz der Forschung zu widmen. Und ihm geht es wirklich gut hier oben! Wie ein Ritter aus früheren Zeiten fühlt er sich, wenn er zum Schloss Hohentübingen emporsteigt, in dessen Keller das Chemielabor der Universität ist. Da ist ritterliche Stärke gefragt - das Labor ist nicht geheizt. Dafür ist es aber auf das Modernste ausgestattet. Und das Beste: sie sind fast ganz allein hier oben, sein Chef und Lehrer Felix Hoppe-Seyler, der erste Professor für Biochemie in Deutschland und sein einziger Schüler.

Der 20-jährige Miescher war 1868 nach Tübingen gekommen, um die chemische Zusammensetzung von Zellen zu studieren. Das funktioniert am besten mit weißen Blutkörperchen, den einfachsten und unabhängigsten Zelltypen im menschlichen Körper. Und dieses unappetitliche gelblichweiße Glibberzeugs auf den verunreinigten Binden ist voll davon. Also los.

Eiter hilft weiter

Eiterzellen bestehen aus verschiedenen Proteinen und Friedrich Miescher hofft, dass diese Proteine ihm verraten werden, wie eine Zelle funktioniert. Den ganzen Winter über sitzt er im ungeheizten Labor und beschreibt und klassifiziert diese Proteine. Meistens ist er enttäuscht. Die Zusammensetzungen dieser Proteine sind so komplex, dass ihnen mit den damaligen Analyseverfahren nicht beizukommen ist. Er beschließt, sich auf die Untersuchung des Zellkerns zu beschränken. Während Livingstone immer weiter nach Afrika reist, begibt sich Friedrich Miescher immer weiter hinein in die Geheimnisse des menschlichen Körpers. Und eines Tages hat er Erfolg. Im Zellkern ist eine Substanz, die sowohl auf Säuren als auch auf Basen nicht so reagiert wie ein Protein. Eine Substanz, die für ein Protein viel zuviel Phosphor enthält. Etwas Unbekanntes, und er, der schwerhörige Junge aus Basel, hat es entdeckt! Am 26. Februar 1869 beschreibt er seinem Onkel, dem Medizinprofessor Wilhelm His, in einem langen Brief, was er herausgefunden hat. Weil sich diese Substanz, die eher an eine Säure erinnert als an ein Protein, im Zellkern befindet, nennt er sie Nuklein.

Sein Lehrer Felix Hoppe-Seyler ist zunächst skeptisch. Und auch Friedrich Miescher ist viel zu perfektionistisch, um seine Entdeckung gleich an die große wissenschaftliche Glocke zu hängen. Wieder und wieder wiederholt er seine Versuche und 1871 ist Felix Hoppe-Seyler so von deren Richtigkeit und deren Bedeutung überzeugt, dass er die Ergebnisse seines Schülers in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift veröffentlicht.

Sehnsucht nach Tübingen

Wieder in Basel, setzt Miescher seine Forschungen zum Nuklein fort. Leider unter wenig komfortablen Bedingungen. In einem Brief an einen Freund klagt er: „In den letzten zwei Jahren habe ich mich heftig nach den Fleischtöpfen des Tübinger Schlosslaboratoriums gesehnt. Hier habe ich keine eigenes Labor, ich werde in einer kleinen Ecke des Chemielabors geduldet, in der ich mich kaum umdrehen kann und das völlig überfüllt mit Studenten und Chemieprofessoren ist.“

1874 veröffentlicht er seine Forschungsergebnisse über das Vorkommen von Nuklein im Sperma verschiedener Wirbeltiere und stößt auf allergrößtes Interesse. Miescher vermutet, dass das Nuklein entscheidend mit der Entwicklung des Embryos zu tun hat. Aber es übersteigt seine Vorstellungskraft, dass eine einzige Substanz für die ganze lebendige Vielfalt auf dieser Erde verantwortlich sein soll! Wahrscheinlich sind es doch eher mechanische Reize, ausgelöst durch die Bewegung des Spermas, und elektrochemische Prozesse, die letztendlich die Entwicklung der befruchteten Eizelle bestimmen.

Friedrich Miescher überlässt das Nuklein seinen Kollegen und wendet sich anderen Forschungsgebieten zu. Erst in den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts wird bewiesen, dass die DNA der Träger der gesamten Erbinformation ist und dass die Wirklichkeit die Fantasie eines schwerhörigen Schweizers bei weitem übertrifft.Andrea Bachmann

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Erstellt:
17.08.2016, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 17.08.2016, 01:00 Uhr

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