Eine gute Gegend

Häusergeschichten: Münzgasse 11

13.09.2017

Häusergeschichten: Münzgasse 11

Heute ist hier ein Teil des Instituts für Erziehungswissenschaften untergebracht. In den 50er-Jahren und bevor der Brechtbau in der Wilhelmstraße gebaut wurde, befand sich hier das Romanische Seminar.

Teile des Hauses, das aus einem giebelständigen Gebäude mit Satteldach im Westen und einem traufständigen Bau im Osten besteht, sind vermutlich sogar noch älter als die Universität. Der Querbau ist jünger, vermutlich wurde er nach einem Brand im Jahr 1624 errichtet. Das verputzte Fachwerkhaus gehört zu den Gebäuden, die nach 1477 das Quartier Latin von Tübingen ausmachten: In der Münzgasse, zwischen der Stiftskirche und dem Augustinerkloster, in dem nach der Reformation das evangelische Stift untergebracht wurde, befanden sich Professorenhäuser, Studentenwohnheime, Buchdrucker- und Verlagsgebäude und Universitätseinrichtungen wie die Aula oder das Gebäude der Juristischen Fakultät. Dazwischen wohnten ein paar vornehme Bürger und Adlige. Eine gute Gegend, vornehm und elegant.

Hier, in unmittelbarer Nähe zu Stiftskirche und Aula, hatte der Universitätskanzler seinen Amtssitz, der bis 1561 zugleich Propst des an der Stiftskirche angesiedelten Chorherrenstiftes und erster Professor der Fakultät für Theologie war. Dementsprechend nannte man das Haus Propstei oder Kanzellariat.

Der Kanzler war ein wichtiger Mann. Er übte als Geistlicher in päpstlichem Auftrag Aufsichtsfunktionen aus, amtierte innerhalb der akademischen Gerichtsbarkeit als Appellationsinstanz und war derjenige, der über die Verleihung akademischer Grade zu bestimmen hatte. Gleichzeitig war er auch eine vom Grafen eingesetzte Aufsichtsperson.

Diese Ämterhäufung hatte etwas mit den Gründungsumständen der Universität zu tun. Um die Hohe Schule, die Graf Eberhard im Barte in Württemberg zu gründen gedachte, personell und finanziell ausstatten zu können, verlegte man das Chorherrenstift St. Martin aus Sindelfingen nach Tübingen. Dazu brauchte und erhielt Eberhard eine päpstliche Lizenz. Die Universität war also eine weltliche Einrichtung, die mit kirchlichem Vermögen gegründet wurde. Erst 1483 wurden die personellen und finanziellen Verbindungen zwischen Universität und Stift gelockert.

1455 hatte man den Kirchenrechtler Johannes Degen, der in Heidelberg Jura studiert hatte, zum Propst des reichen Sindelfinger Martinsstiftes gewählt. Folgerichtig wurde er 1477 der erste Kanzler der Universität und zog in das Haus in der Münzgasse. Das einflussreiche Amt hatte er bis zu seinem Tode inne. 1482 starb er an der Pest.

Sein Nachfolger wurde der Rektor der Universität, Johannes Vergenhans, genannt Nauclerus. Der Theologe und Jurist war einer der gelehrtesten Männer seiner Zeit, ein kluger Diplomat und geschickter Netzwerker. Bis 1459 war er der Erzieher des jungen Grafen Eberhard gewesen und diesem deshalb auch persönlich sehr verbunden. Johannes Vergenhans beschreibt in einer Inventarliste genau, in wessen Nachbarschaft sich das Kanzellariat befand: Die aus Wohnhaus, Scheuer und Zubehör bestehende Behausung des Propstes grenze auf der einen Seite an das Haus des Stiftsdekans, auf der Rückseite an die Behausung des Konrad Lutz, auf der anderen Seite an die Scheuer des Dr. Ludwig Truchsess und die Behausung des Heinrich Ochsenbach.

Graf Eberhard gefiel es bei seinem ehemaligen Erzieher erheblich besser als auf dem Tübinger Schloss. Wenn er in Tübingen war, stieg er in der Münzgasse 11 ab. Angeblich – so schreibt es jedenfalls Melanchthon, der aber erst viele Jahre nach dem Tod des Herzogs nach Tübingen gekommen war – sollen die beiden dann vor Tagesanbruch aufgestanden sein, um sich drei Stunden lang zu beraten. Anschließend gingen sie in die Kirche. Zum Frühstück kamen Professoren oder Adlige zu Besuch. Auch die Abende verliefen im gemeinsamen Gespräch.

Solange Graf Eberhard lebte, blieb Nauclerus dessen enger Berater und hatte deshalb großen Einfluss auf die württembergische Landespolitik. Weit gereist und umfassend gelehrt, einflussreich und hoch geachtet stirbt der Jurist, Theologe, Politiker und Historiker am 5. Januar 1510. Andrea Bachmann

Bild: Bachmann

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13.09.2017, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 13.09.2017, 01:00 Uhr

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