Das Ende der Eiszeit

Im Neckar spiegelt sich der Klimawandel

05.01.2016

Ein immer selteneres Bild in Tübingen: Der zugefrorene Neckar. Bild: Bachmann

Ein immer selteneres Bild in Tübingen: Der zugefrorene Neckar. Bild: Bachmann

Wer in diesem Jahr in den Weihnachtsferien im Straßencafé saß, die Nase in die Sonne hielt, einen Cappucino schlürfte und womöglich sogar ein Eis dazu schleckte, wird es sich überhaupt nicht vorstellen können. Aber vielleicht davon träumen: Am 9. Januar 1985 bedeckte den Neckar eine etwa 15 Zentimeter dicke Eisschicht! Zwischen Platanenallee und Hölderlinturm konnte man spazieren gehen, Schlittschuh laufen, Ball spielen – kaum jemand ließ sich dieses ungewöhnliche Vergnügen entgehen, das selten genug ist: 14 Jahre war es her, dass der Neckar zum letzten Mal zugefroren war. 1971 konnten die Tübinger zum letzten Mal mit Schlittschuhen über den Fluss – und nicht nur über den Anlagensee – gleiten.

Richtig kalt war es 1963. Da fror sogar der Bodensee zu, was tatsächlich immer schon ein Jahrhundertereignis war. So richtig ein Vergnügen waren die eisigen Verhältnisse aber eher nicht: „Januar 1963. In Tübingen herrschte klirrende Kälte. Der Neckar ist völlig zugefroren und im Studentenwohnheim haben sie kein Heizöl mehr, also sitzen alle mit Mänteln in ihren Zimmern“, ist in dem vermutlich nicht nur andeutungsweise autobiographischen Roman „Sternschnuppenglück“ von Rolf Wenzel zu lesen. Dann doch lieber Cappuccino in der Sonne und eine niedrige Heizkostenrechnung.

Im Durchschnitt alle zehn Jahre schaffen es die niedrigen Temperaturen, den Tübinger((nne)n das seltene Wintervergnügen zu bescheren: Am 1. Januar 1997 bevölkerten Hunderte von Menschen den Fluss, es gab sogar Glühweinstände und Rainer Kaltenmark, der Leiter des Ordnungsamtes, der sonst eher die Menschen von der noch zu dünnen Eisschicht vertreibt, träumte von einem Neckarwinterfest mit Open-Air-Kino. Dummerweise leitete die Kläranlage in Kiebingen warmes Wasser in den Fluss, das dem Tübinger Breughel-Idyll samt Kaltenmarks gefrorenen Träumen ein Ende setzte.

Auf dünnem Eis

Anders 2012: Da wagten sich an einem Februarsonntag ein paar Dutzend Menschen auf die gerade eben gefrorene Eisdecke, wurden aber schon kurze Zeit später von der Polizei per Megafon gebeten, die Schlitterpartie zu unterlassen, weil das Eis noch nicht trug. Der Stocherkahnfahrer Thomas Schneider, einer von denen, die mit dem Fluss sozusagen per du sind, brach sogar im Eis ein und stand bis zu den Hüften im Wasser. Ein Fotograf vom TAGBLATT war just zugegen und machte flugs ein Foto, das anderntags anderen Waghalsigen zu Warnung in der Zeitung zu sehen war – was für ein Zufall.

Schon seit 200 Jahren friert der Neckar nicht mehr regelmäßig zu: Zunächst sorgten die Flusskorrekturen mit höherer Fließgeschwindigkeit für weniger Eis, mittlerweile machen die vielen Wärmekraftwerke, deren Abwärme den Fluss aufheizt, den Neckar mit einer Durchschnittstemperatur von 16 Grad sogar zum wärmsten Fluss Deutschlands.

In der frühe Neuzeit war das anders. Martinus Crusius, Professor in Tübingen, berichtet, dass 1595 der Neckar „dermaßen zugefroren“ gewesen sei, „dass man mit geladenen Wagen darauf fahren konnte“. 1709 bedeckte den Neckar von Mitte Januar bis Ende März fast ununterbrochen eine stabile Eisschicht. Aber schon 1827 war in der Leipziger Zeitung zu lesen: „Die Flüsse sind nicht so allgemein zugefroren als in früherer Zeit schon geschah. Der Neckar gefror (in Württemberg) nirgends ganz zu, und auch die Donau nur auf einer kleinen Strecke.“

Kein Frust ohne Frost

Der kälteste Winter, an den man sich in Württemberg zu erinnern scheint, war vermutlich der von 1928/29. Zwischen Dezember und Februar zählte man insgesamt 53 Frosttage, in denen die Quecksilbersäulen der Thermometer auf sibirische 30 Grad unter dem Gefrierpunkt sanken. Ende Januar kam das Großwild aus dem Schönbuch in die Nähe der Dörfer. Der Neckar war komplett zugefroren, in Rottenburg wurde mit zwei vollständigen Mannschaften auf dem Eis Fußball gespielt. Als es endlich wieder wärmer wurde, rückte man dem Eis mit Sprengladungen zuleibe, um die Brücken zu schützen, was nicht immer gelang. Besonders draufgängerische Jungen surften auf den Eisschollen.

So kalt ist es seitdem nie wieder geworden. Was wohl niemand vermisst. Aber auf dem Neckar Eislaufen wäre schon eine feine Sache. Andrea Bachmann

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05.01.2016, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 05.01.2016, 01:00 Uhr

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