Strom aus dem Fluss

Am 30. Dezember 1911 wurde am Nordufer des Neckars das Tübinger Wasserkraftwerk eingeweiht

30.12.2015

Der Fotograf Heinrich Metz dokumentierte im Jahr 1911 den Bau des Neckarkraftwerks. Das Foto gehört zu den wenigen Farbaufnahmen aus dieser Zeit.

Der Fotograf Heinrich Metz dokumentierte im Jahr 1911 den Bau des Neckarkraftwerks. Das Foto gehört zu den wenigen Farbaufnahmen aus dieser Zeit.

Der Neckar war voller Kiesbänke, die Uferzone flach. Hochwasser gehörten in Tübingen zum Alltag, überschwemmten den Wöhrd und setzten die wenigen Häuser dort unter Wasser. Aber am meisten störten sich die schaffigen Tübinger Bürger Mitte des 19. Jahrhunderts daran, dass „hier allein, in der Stadt der Intelligenz, der Neckar vergeblich vorüber lauft“, wie der Stadtrat Wilhelm Reichmann beklagte. Die Stadt wuchs und brauchte Energie. Die „weiße Kohle“, wie die Wasserkraft genannt wurde, lag direkt vor der Haustür und ab Mitte des 19. Jahrhunderts fing nicht nur der Oberbürgermeister Hermann Haußer an, darüber nachzudenken, „den untätig vorbeifließenden Neckar endlich einmal zu wirtschaftlicher Arbeit zu zwingen“.

Man diskutierte und überlegte einige Jahrzehnte – nicht zuletzt, weil die Tübinger die schönen Alleen im Wöhrd oder das Schwimmbad – die „akademische Badschüssel“ am Mühlbach nicht zugunsten eines Industriegebiets hergeben wollten. 1908 fasste sich der Gemeinderat endlich ein Herz und einen Beschluss: Das Flussbett des Neckars wurde über eine Länge von über drei Kilometern komplett umgestaltet und teilweise verbreitert und streckenweise mit Seitenmauern versehen, die Mündungen von Steinlach und Mühlbach wurden verlegt und schließlich baute man einen Flutkanal an der Platanenallee. Seitdem liegt Tübingen leider immer noch nicht am Meer, verfügt aber immerhin über eine Insel. Außerdem schaffte man so hochwasserfreies Siedlungsgebiet.

Prunkstück all dieser Modernisierungsmaßnahmen war ein Wasserkraftwerk in der Brückenstraße am Nordufer des Neckars. 1910 konnte mit den Arbeiten begonnen werden und am 30. Dezember 1911 machten sich die Tübinger mit der Einweihung dieser ersten „Walzenwerkkonstruktion“ Deutschlands nachträglich ein besonderes Weihnachtsgeschenk und starteten im wahrsten Sinne voller Energie ins neue Jahr.

Das Stauwehr verfügt über eine Fallhöhe von 4,30 Meter. Der Stau des Neckars erfolgt durch Wehrwalzen, in der Mitte des Wehres steht das Windenhaus, das die Bedienung der Walzen und Schütze ermöglicht. Zwei funkelnagelneue Zwillings-Francis-Turbinen samt Generatoren brachten es auf eine Leistung von 626 PS. Damit konnte der Strombedarf der gesamten Stadt gedeckt werden – 1913 zählte die Universitätsstadt etwa 1000 Stromkunden.

Wenige Tage nach der Einweihung, die mit einer Besichtigung des neuen Kraftwerkgeländes und einer anschließenden „bescheidenen Feier mit anschließendem Festessen im Museum“ begangen wurde, nahm man das Kraftwerk in Betrieb. Im März konnte die Tübinger Chronik voller Stolz vermelden: „Die neue Neckaranlage arbeitet tadellos, man hat immer einen Überschuss. Es werden 60 000 Mark der Stadtpflege überwiesen.“

Die neue gestaute Wasserfläche bescherte der Stadt auch neue Sportmöglichkeiten: Im Winter konnte man dort Schlittschuh laufen, im Sommer eroberten Ruderboote und Stocherkähne den Neckar. Die Bootsausfahrten wurden so schnell so beliebt, dass die Stadt bereits im Sommer 1912 Regelungen für die Nutzung des Neckars als Freizeitanlage erlassen musste.

Die „Wasserkraftanlage Brückenstraße“ steht seit 1995 unter Denkmalschutz. Der Schiebekran, die Zahnräder und die Walzen des Wehres sind seit 114 Jahren in Betrieb. Die Francis-Turbinen wurden erst 1982 durch effizientere Kaplanturbinen ersetzt. Zwischen Kraftwerk und Wehr baute man 1998 einen sogenannten Raugerinne-Beckenpass ein, der dafür sorgt, dass Fische auch gegen den Strom schwimmen können. Andrea Bachmann

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30.12.2015, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 30.12.2015, 01:00 Uhr

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