Vielfältig und regelmäßig

Am kommenden Wochenende ist die 3000. Motette in der Tübinger Stiftskirche

In Tübingen beginnt der Sonntag am Samstagabend. Da geht man in die „Motette“ in der Stiftskirche – seit 75 Jahren. Am kommenden Samstag, 22. Februar, zum 3000. Mal. Ein echtes Erfolgsmodell, an dem jedes Jahr ungefähr 20 000 Menschen teilnehmen.

19.02.2020

So ähnlich wird es auch am kommenden Motetten-Festwochenende in der Tübinger Stiftskirche aussehen: die Kantorei der Stiftskirche und die Camerata viva Tübingen. Bild: Radegunde Pfau

So ähnlich wird es auch am kommenden Motetten-Festwochenende in der Tübinger Stiftskirche aussehen: die Kantorei der Stiftskirche und die Camerata viva Tübingen. Bild: Radegunde Pfau

Tübingen. Die allererste Motette fand am Samstag vor dem 1. Advent im Jahr 1945 statt – und zwar in der Jakobuskirche. Der damalige Stiftskirchenkantor Walter Kiefner hatte in Leipzig studiert und dort diese musikalischen Gottesdienste kennen und lieben gelernt. Diese besondere Verbindung zwischen Liturgie und Musik wollte er auch für Tübingen.

Mit bislang 2999 Motetten haben Kiefner und seine Nachfolger Gerhard Steiff, Gerhard Kaufmann und Ingo Bredenbach die Tübinger Musikkultur entscheidend geprägt. Zu Beginn bestritt man die Motette noch mit den musikalischen Bordmitteln der Stiftskirche. Mittlerweile ist aus der Andachtsstunde mit Musik längst ein konzertanter Gottesdienst geworden, an dem viele unterschiedliche Akteure beteiligt sind.

Dazu gehört natürlich die Kantorei der Stiftskirche, die mittlerweile mit etwa 90 Sängerinnen und Sängern aufwarten kann. Einige sind schon lange dabei. Irmgard Lang-Mergner hat 1955 angefangen. Da war sie neun Jahre alt und sang beim Motettengründer Walter Kiefner im Kinderchor. Sie erinnert sich an avantgardistische und experimentelle Motetten in den 70er-Jahren: „Man hat sich Sachen getraut, die hätte man im Festsaal der Universität nicht hören können. Da gab es auch Musik, die nicht mehr dezidiert Kirchenmusik war. Marcia Haydée hat bei uns getanzt. Und oft hatte die Motette auch einen politischen Anspruch.“

Damals hatte das Evangelische Stift noch keinen eigenen Chor, die Stiftsstudierenden sangen in der Kantorei mit. Zu ihnen gehörte Beatrice Frank, deren Kantoreikarriere 1977 begann. Ihr gefällt es, dass in der Motette „ganz niederschwellig hochkarätige Musik für jedermann“ gemacht wird.

Tatsächlich bietet die Motette eine große programmatische Bandbreite: Vom Talentschuppen für Nachwuchsmusiker/innen bis zur Bühne für ausgesprochen renommierte Künstlerinnen und Künstler, vom kleinen, feinen Jazzensemble bis zum großen Oratorienchor ist alles vertreten – bei freiem Eintritt.

Für manche Sängerinnen und Sänger war die Kantorei eine Familienangelegenheit. Christoph Hertel kam 1979 mit Mutter und Schwester dazu, Irmgard Rittberger begleitete vor etwa dreißig Jahren ihren Sohn, der für die Organistenprüfung Chorerfahrung nachweisen musste – und blieb dabei. „Wir waren immer ein ziemlich bunter Haufen aus ganz unterschiedlichen Leuten“, erinnert sich Irmgard Rittberger. Die Kantorei ist ein Kirchenchor, deshalb gibt es keine Aufnahmeprüfung, keine Altersbeschränkung und keine Anwesenheitskontrollen. „Das ist alles total niederschwellig“, meint Beatrice Frank. „Aber dafür singen wir echt ziemlich gut!“

Die vier Sängerinnen und Sänger wirkten bereits bei der 2000. Motette am 8. März 1997 mit. Aufgeführt wurde die C-Moll Messe KV 427 von Mozart, mit einem von Gerhard Kaufmann extra komponierten Agnus Dei. Ein Riesenerfolg. „Wir hatten mit Andrea Hornung-Böhsen und Susan Eitrich hervorragende Solistinnen“, erinnert sich Irmgard Rittberger. Außerdem traf man sich nach der Motette zum ersten Mal zu einem Empfang direkt in der Kirche. „Das war damals noch nicht so üblich“, meint Christoph Hertel. Manchmal bremsten Kirchengemeinderat oder sogar der Oberkirchenrat allzu experimentelle Ideen der jeweiligen Kantoren aus. Die „Catulli Carmina“ von Carl Orff wollte man ebenso wenig in der Motette haben wie das satirische Oratorium „Die Kamele“, das Stiftskirchenkantor Gerhard Steiff 1986 komponiert hatte.

Die vier Sängerinnen und Sänger besuchen natürlich auch dann die Motette, wenn sie nicht selber singen. „Abwechslungsreich, vielfältig und regelmäßig“ – das macht für Christoph Hertel den Charme dieses musikalischen Gottesdienstes aus. Wichtig ist auch die aktive Teilnahme der Gemeinde, die zumindest das Wochenlied beisteuert und gemeinsam betet. Immerhin ist die Motette ein richtiger Gottesdienst. In der 3000. Motette am 22. Februar wird deshalb das Publikum selber zum Chor und singt gemeinsam mit der Kantorei den „Messiah“ von Georg Friedrich Händel als sogenanntes „Sing-along-Projekt“. Andrea Bachmann

Zum Motetten-Jubiläum am kommenden Wochenende wird in der Stiftskirche der „Messiah“ von Georg Friedrich Händel zwei Mal aufgeführt – in englischem Original.

Beim Sing-along am Samstag um 20 Uhr kann gesungen werden. Wer einen eigenen Klavierauszug hat, sollte ihn bitte mitbringen.

Am Sonntag um 17 Uhr wird der „Messiah“ in leicht gekürzter Fassung aufgeführt.

Mitwirkende: Christine Reber (Sopran), Christine Müller (Alt), Marcus Elsäßer (Tenor), Georg Gädker (Bass), Kantorei der Stiftskirche und Ensemble vocale piccolo, Camerata viva Tübingen

Leitung: Ingo Bredenbach

Eintritt frei.

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Erstellt:
19.02.2020, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 06sec
zuletzt aktualisiert: 19.02.2020, 01:00 Uhr

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