Märchenhaftes Hexenhäuschen

Besondere Bauten in der Region: Haus Ammergasse 1 in Tübingen

26.01.2022

Detail am Haus Ammergasse 1.

Detail am Haus Ammergasse 1.

Für viele Menschen ist das dreigeschossige Eckhaus an der Krummen Brücke mit dem Erkertürmchen, dem Fachwerk und den hölzernen Konsolen eines der schönsten Häuser der ganzen Tübinger Altstadt. Wie kein anderes steht das um 1600 erbaute repräsentative Handwerkerhaus für das Bild idyllischer Fachwerkromantik vergangener Zeiten, als die Welt noch in Ordnung war und die Häuser keine rechteckigen Schachteln aus Beton.

Die ersten Bewohner waren vermutlich Weißgerber, von denen in einem Dokument von 1630 die Rede ist. Sie werden den Ammerkanal wie ihre Kollegen zum Arbeiten genutzt haben, die Ammergasse hieß früher sogar Gerbergasse.

1659 baute der Hirschwirt Friedrich Kommerell, der sich das Haus mit dem Weißgerber Johann Georg Ulrich teilte, eine Feuerstatt und eine Werkstatt in das Haus, was eigentlich verboten war. Aber seitdem wurde das Haus auch von anderen Handwerkern als von Gerbern genutzt.

Schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts klapperte ein Mühlrad an dem Eckgebäude, das wahrscheinlich der Dreher Christoph Jakob Günther 1757 dort eingerichtet hatte. Platschrädle nannte man die Räder längs des Ammerkanals, die dessen Wasserkraft zum Betrieb diverser Mühlen, Stampfen, Pressen, Schleifen oder eben Drechselmaschinen ausnutzten. Leise war das nicht – die Nachbarn des Drehers beschwerten sich jedenfalls auf dem Rathaus über das Rauschen und Platschen des Wassers. Ihnen wurde allerdings beschieden, dass ihr Ruhebedürfnis hinter den Anforderungen von Handwerk und Gewerbe zurück zu stehen hatte.

1771 kaufte der Schmied Johannes Vohle das Haus und richtete dort eine Schmiede ein, dreißig Jahre später baute ein Carl Wenz die Dreherwerkstatt zur Färberei mit sechs Farbkesseln um.

Das Haus wechselte immer wieder den Besitzer. 1862 verkaufte es der Metzger Christian Fredrich Hornung an seinen Schwiegersohn, den Schmiedemeister Konrad Efferenn. 3800 Gulden war das Haus damals wert, in dem noch bis 1904 eine Schmiede und zumindest teilweise auch eine Branntweinbrennerei betrieben wurde.

Dann zog dort eine Schuhmacherwerkstatt ein, die bis in die 1960er-Jahre Bestand hatte.

Heute ist es schwer vorstellbar, dass das schmucke Wohn- und Geschäftshaus gleich zwei Handwerksbetriebe beherbergte. Aber für 1715 ist belegt, dass in den Haus außer den beiden Werkstätten noch zwei Stuben und vier Kammern, ein Stall, eine Scheuer und natürlich ein Keller untergebracht waren.

Von all dem ist nichts mehr zu sehen, denn 1904/1905 wurde das Haus komplett umgestaltet. Das Platschrädle wurde abgebaut, der Ammerkanal abgedeckt. Man erhöhte den Erker an der Ecke und verpasste ihm das charakteristische spitze Kegeldach. Das Fachwerk wurde in den oberen Etagen freigelegt, die hölzernen Konsolen wurden mit dekorativem Schmuckfachwerk verziert, das keinerlei statische Funktion mehr hat. Fertig war ein historistisches Schmuckstück, wie man es in der Altstadt nur selten findet: Während in Gründerzeiten an den Altstadträndern gebaut wurde, was das Zeug hielt, fanden vor allem in der unteren Stadt kaum größere bauliche Veränderungen statt.

Der Historismus des 19. Jahrhunderts ist eine Mischung aus Vergangenheitssehnsucht und dem Mangel an einer eigenständigen architektonischen Formensprache, die sich angesichts des rasanten, wirtschaftlichen Aufschwungs und dem damit verbundenen Bauboom gar nicht richtig ausbilden konnte. Nachdem man sämtliche Baustile von der Romanik bis zum Barock durchkonjugiert hatte, entdeckte man letztendlich das Fachwerk als romantisches Schmuckmotiv. Aber jetzt folgte nicht mehr die Form der Funktion wie im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Fachwerkbau, sondern verpasste den Fassaden mit bunter Pseudofachwerkarchitektur das Aussehen eines märchenhaften Hexenhäuschens.

„Dekoration ist der wichtigste Teil der Architektur“ befand der britische Architekt Sir William Scott (1871-1921). Ihm hätte das Haus in der Ammergasse sicherlich gefallen.

Andrea Bachmann

Detail am Haus Ammergasse 1.

Detail am Haus Ammergasse 1.

Zum Artikel

Erstellt:
26.01.2022, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 48sec
zuletzt aktualisiert: 26.01.2022, 01:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen