Der frühere Rektor der Französischen Schule, Paul-Gerhard Jud, erzählt von deren Anfängen

„Es gab nichts“

15.11.2023

So sah die Französische Schule am Galgenberg aus, als sie noch nur Grundschule war. Archivbild: Metz

So sah die Französische Schule am Galgenberg aus, als sie noch nur Grundschule war. Archivbild: Metz

„Was möchten Sie eigentlich für Ihr Kind? Wollen Sie, dass es aufs Gymnasium geht, oder wollen Sie, dass es Abitur macht?“

Diese Frage stellte Paul-Gerhard Jud gerne mal, wenn es am Ende der Grundschulzeit beim Elterngespräch darum ging, in welche weiterführende Schule das Kind denn gehen soll. Jud war lange Jahre Grund- und Hauptschullehrer und von 1995 bis 2009 Rektor der Französischen Schule im Tübinger Süden – einer Grundschule mit besonderem Schulkonzept, das eine engagierte Lehrerinnen- und Lehrergruppe zwei Jahre lang erarbeitet hatte. Ein Konzept, das stark an der Freinet-Pädagogik ausgerichtet ist.

Vor 30 Jahren, nachdem die französischen Stationierungstruppen aus Deutschland und damit auch aus Tübingen abgezogen waren, gab es schlagartig eine große Fläche im Tübinger Süden, die frei zur stadtplanerischen Gestaltung war: Platz für das zukünftige Französische Viertel. Die beiden Grundschulen dort, die Hügelschule und die Mörikeschule (die zudem Hauptschule war), waren schon seit Jahren an ihren räumlichen Grenzen. Da war absehbar, dass mit einem weiteren großen Wohngebiet eine Grundschulerweiterung dringend nötig werden würde und bereits zum Schuljahr 1992/93 zogen sechs einzelne Grundschulklassen der Hügel- und der Mörikeschule in das gerade frei gewordene Gebäude der Franzosen an der Galgenbergstraße – ein Provisorium.

Gleichzeitig lud die damalige Tübinger Sozialbürgermeisterin Gabriele Steffen zu einem Abend ein mit dem Ziel: Es sollte sich eine Gruppe finden, die eine Konzeption für eine neue Schule im Tübinger Süden entwickelt – Reformpädagogik dringend erwünscht. An diesem Abend war Paul-Gerhard Jud dabei – und mit ihm viele aus der „Freinet-Gruppe“, eine private Tübinger Gruppe, die sich schon seit Ende der 1970er-Jahre regelmäßig zum Austausch traf. Mit dabei waren vor allen Lehrerinnen und Lehrer, die versuchten, in ihren jeweiligen Schulen, Elemente aus der Schulpädagogik von Freinet, einem französischen Reformpädagogen, zu verwenden.

„Es gab nichts“, erzählt Jud, „wir waren in der Gruppe viel damit beschäftigt, Unterrichtskonzepte und vor allem unsere eigenen Unterrichtsmaterialien zu erstellen. In Deutschland hat man damals dazu gar nichts irgendwo bekommen können.“ Eine Schuldruckerei – ein wesentlicher Bestandteil der Freinet-Pädagogik – bestellte Jud in Frankreich und holte sie auch selber ab.

Die Freinet-Gruppe, zu der im Laufe der Zeit immer mehr Lehrende aus der Gegend dazu kamen, traf sich jahrelang ein Mal pro Woche(!), immer bei jemand anderem im Wohnzimmer.

Jud war Lehrer an der Kirchfeldschule in Kirchentellinsfurt und versuchte auch da schon, reformpädagogisch zu unterrichten. Er hatte offene Unterrichtsformen und Projektunterricht in seinem Studium an der PH Reutlingen kennengelernt, von einer sehr engagierten Professorin. Der französische Schulreformer (und Sozialist) Célestin Freinet wurde im damals erzkonservativen Baden-Württemberg eher totgeschwiegen.

Was war für den Lehrer Jud das Besondere an Freinets Reformpädagogik? „Weg von der Lehrerzentrierung hin zu einem forschenden Lernen“, sagt er, „der offene Unterricht mit mehr Projekten, nicht nur ‚Im-Gleichschritt-marsch‘-Belehren.“ Für Jud, der 1948 geboren ist, war die Freinet-Pädagogik vor allem auch das „Weg von dem Nachkriegslernen“, wie es bis dahin an deutschen staatlichen Schulen üblich war.

Als dann die Stadt Tübingen dazu einlud, sich an der Konzeption einer neuen Schule zu beteiligen, war für viele aus der Freinet-Gruppe klar, dass das die einmalige Chance war, ein völlig neues Schulkonzept mitentwickeln zu können. „Wir waren eine wirklich gute Gruppe“, erzählt Jud, „da haben wir richtig gepowert.“ Ungefähr 20 Leute waren bei der Konzept-Gruppe dabei und es dauerte gut zwei Jahre, bis alles Wesentliche geklärt war. Zum Beispiel auch, wo die neue Schule sein sollte. „Irgendwann war klar, dass die ehemalige Schule der Franzosen das Gebäude ist, wo die neue Grundschule am schnellsten umgesetzt werden kann.“

Den Tübinger Gemeinderat von der neuen Schulkonzeption zu überzeugen, war – zumindest in Juds Erinnerung – einigermaßen unproblematisch. Schwierig hingegen war, für diesen „Schulversuch“ eine Genehmigung vom Kultusministerium zu bekommen. „Da mussten wir zwei Mal hin und unser Konzept verteidigen“, erzählt er. „Dabei war eigentlich klar, dass wir genau das umgesetzt haben, was der Bildungsplan damals wollte.“ Jud findet heute noch, dass „es 1988 einen richtig guten Bildungsplan“ gab – und er zeigt sich ziemlich ernüchtert darüber, wie langsam es im Bildungsbereich vorwärts geht. Und dass es oft sogar deutliche Rückschritte gibt.

Die offizielle Schulgründung der Französischen Schule Tübingen war im Herbst 1994, mit rund 150 Schülerinnen und Schülern in acht Klassen, einem 11-köpfigem Kollegium und einem kommissarischen Rektor, Jürgen Oppenländer. Paul-Gerhard Jud wurde im darauf folgenden Schuljahr, 1995, zum Schulleiter ernannt. „Alleinherrscher wollte ich nie sein“, sagt er und ist froh, dass da „immer eine Gruppe war“. Auch wenn man als Rektor das ein oder andere alleine entscheiden müsse, war für ihn immer wichtig: „Für so eine Schule braucht es auch entsprechende Kollegen und ich war nie derjenige, der einzeln was durchsetzen wollte.“

Verärgert aber ist Jud irgendwie immer noch darüber, dass man als Schulleiter vom Amt sehr allein gelassen wird: „Da ist niemand gekommen und hat einem was erklärt. Da ist man wirklich schlecht vorbereitet auf das, was auf einen zukommt, mit wem man es zu tun hat und wo man was einfordern muss.“

Dabei hatte die neue Schule jede Menge zu tun: die altersgemischten Lerngruppen wurden eingerichtet (es gibt keine nach Alter getrennten Klassen: Erst-, Zweit- und Drittklässler werden zusammen unterrichtet), Projekte wie Zirkuspädagogik, Zelten, Schafe, Schultheater, Ziegen, Mittagessen wurden in Angriff genommen, die Schülerzahlen stiegen, das Kollegium wuchs und es kam ständig interessierter Besuch – die Schule wurde zu einer „Art Hospitanzschule für Baden-Württemberg“ (Jud).

Nebenher war das Schulkonzept in ständiger Anpassung und schon nach wenigen Jahren hat das Kollegium zudem eine Konzeption für gemeinsames Lernen bis zur 10. Klasse entwickelt – ein Plan, der immer wieder vom Kultusministerium abgelehnt wurde. Leider, wie Jud auch heute noch bedauert: „Es war immer unser Wunsch, gemeinsames Lernen bis zur 10. Klasse zu verwirklichen.“

Als das dann mit der neuen Schulart „Gemeinschaftsschule“ 2012 in Baden-Württemberg doch noch Wirklichkeit wurde und die Französische Schule sofort mit dabei war – unter anderem deswegen, weil sie ein fertiges Konzept in der Schublade hatte –, hat das Jud nicht mehr als Rektor und Lehrer mitgemacht. Er ist 2009 in Pension gegangen. Mit der Schule verbunden ist er natürlich immer noch, lange Jahre war er sogar der Vorsitzende des Fördervereins.

Ob die Gemeinschaftsschule nun ein Erfolgsmodell ist? Für Jud ist das gemeinsame Lernen bis zur 10. Klasse ein hohes Gut: „Nur an der Gemeinschaftsschule gibt es keine Abspaltung. Sonst werden nach der Grundschule Freundschaften, Familien auseinandergerissen. In Kirchentellinsfurt habe ich das immer wieder sehen müssen, dass Kinder nach Tübingen sind und Freunde da geblieben sind.“

„Das Wichtigste ist doch, herauszufinden, was man mal machen möchte“, findet Jud und ist überzeugt davon, dass das die Hauptaufgabe von Schule ist: helfen, den zukünftigen Beruf zu finden.

„Das Wichtigste ist nicht, Abitur zu machen.“ Paul-Gerhard Jud weiß, wovon er redet: Er selber ist erst über den zweiten Bildungsweg Lehrer geworden. Nach einer Ausbildung zum Industriekaufmann hat er zunächst sieben Jahre in diesem Beruf gearbeitet. Den Sprung ins Studium schaffte er über die Eignungsprüfung an der Pädagogischen Hochschule in Reutlingen – eine der vielen Möglichkeiten, auch ohne Abitur zu studieren. Denn: Abitur hat der langjährige Rektor der Französischen Schule nie gemacht. Angelika Brieschke

Paul-Gerhard Jud war von Anfang mit dabei bei der Französischen Schule, deren Rektor er 14 Jahre lang war. Bild: Angelika Brieschke

Paul-Gerhard Jud war von Anfang mit dabei bei der Französischen Schule, deren Rektor er 14 Jahre lang war. Bild: Angelika Brieschke

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Erstellt:
15.11.2023, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 15.11.2023, 01:00 Uhr

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