Der Kommentar

Eine Frage der Höflichkeit

19.06.2019

Von Philipp Schmidt

Es ist weitgehend Konsens in der Gesellschaft, dass die Sitten verrohen, der Ton im öffentlichen Raum rauer wird. Dabei denkt man spontan oft an den Jugendlichen, der einer alten Dame in der vollen Bahn nicht den Platz anbietet. Der Sittenverfall wird der nachkommenden Generation allerdings seit der Antike vorgeworfen. Alarmierender erscheint mir daher das schleichende Schwinden von Höflichkeitsregeln unter Gleichaltrigen. Im Umgang von Menschen, die etwas anzubieten haben, mit jenen, die etwas erbitten, ist es leider zur schlechten Manier geworden, den anderen das Gefälle allzu deutlich spüren zu lassen. Verkäufer, Arbeitgeber, Vermieter – kaum einer macht sich noch die Mühe, dem Käufer oder Bewerber eine Absage zu schreiben. Warum auch? Der sieht ja, was Sache ist, wenn das Angebot oder die Ausschreibung irgendwann gelöscht wird. Seit ich nach einigen Jahren Pause als Autofahrer wieder aktiv am Straßenverkehr teilnehme, tue ich das, was ich als Kind bei Erwachsenen unheimlich fand - ich fluche häufig. Typischer Anlass: Der Kreisverkehr im Landkreis Tübingen. Ich muss abbremsen, weil nur noch die wenigsten vor dem Verlassen blinken. Überhaupt wird nur noch sehr wenig geblinkt. Ich rege mich dann auf und frage mich, wie viel Aufwand es für Fahrerin oder Fahrer wohl bedeuten kann, die Hand minimal zu heben, um den Blinker zu betätigen.

Besser als sich zu ärgern, ist es freilich, sich zu fragen, was kann man selbst an dem Zustand ändern, über den man sich aufregt. Dabei komme ich auf den Gedanken, dass es sich vermutlich um eine sich selbst verstärkende Dynamik handelt. Wir kommen nur heraus, wenn jeder sich ganz klassisch so verhält, wie man sich wünscht, dass mit einem selbst umgegangen wird. Ich nehme mir also vor, brav weiterzublinken, statt wütend und unfreundlich zu werden. Wenn Menschen etwas von mir wollen, denke ich daran, dass es oft genug anders herum ist. Klar, höflich zu sein bedeutet immer einen kleinen Mehraufwand. Aber das kommt zurück. Und falls nicht, hat man nichts verloren. Man kann das Blinken ja auch als Workout betrachten.

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Erstellt:
19.06.2019, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 05sec
zuletzt aktualisiert: 19.06.2019, 01:00 Uhr

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