Aus der Luft und zu Fuß (42)

Mössingen

22.08.2018

Von Andrea Bachmann / Bilder: Erich Sommer

Mössingen

Für eine Kommune, die erst vor 44 Jahren das Stadtrecht bekam, hat Mössingen viel erlebt. Als im Frühjahr 2017 in der Nähe des Schulzentrums eine Baugrube ausgehoben wurde, machten die Arbeiter eine erstaunliche Entdeckung: Sie fanden ein etwa 4500 Jahre altes Grab, welches das bisher älteste vollständige Menschenskelett enthielt, das je in der Region geborgen wurde. Der Tote war ein etwa zehnjähriger Junge, unweit von ihm fand man noch das Skelett eines Pferdes. Das war ebenfalls noch vollständig erhalten, wenn man davon absieht, das ihm der Kopf abgeschlagen worden war.

Das Grab befand sich am Rand eines Friedhofs, der ungefähr aus der Zeit stammte, als Mössingen zum ersten Mal erwähnt wurde: 774 taucht der Ortsname zum ersten Mal in einem Kodex des Klosters Lorsch in Südhessen auf.

Die Gräber wurden Ende des 19. Jahrhunderts im Bereich der heutigen Langen Straße, Falltorstraße und „Auf der Lehr“ gefunden. Der Name „Auf der Lehr“ kommt vom althochdeutschen „leh“, was „Hügel“ bedeutet und auf einen Friedhof hinweist. Die Toten lagen reihenweise geordnet von West nach Ost vierzig Zentimeter unter der Bodenoberfläche. Der Kopf war bei allen Begrabenen mit einer Steinplatte bedeckt. Das lässt darauf schließen, dass die Gräber um 700 angelegt wurden und zu einem Hof oder Weiler gehörten – dem späteren Mössingen.

Wer heute in Mössingen vor dem schönen Fachwerkhaus mit dem verwunschenen Märchengarten voller duftender Rosen steht, darf sich gerne vorstellen, wie viele Geschichten dort unter der Erde liegen.

Der 30-jährige Krieg, Missernten, Hungerwinter und die Realteilung, die dazu führte, dass irgendwann niemand mehr genug Boden besaß, um davon eine Familie zu ernähren, trieben die Menschen im 19. Jahrhundert fort: Aus keinem anderen Ort in Württemberg sind so viele Menschen ausgewandert wie aus Mössingen.

Die, die blieben, fanden ab 1871 Arbeit in der Mechanischen Buntweberei Hummel. Von da an war die Textilindustrie der wirtschaftliche Motor Mössingens und vor allem die Pausa setzte nicht nur im Textildruck Maßstäbe, sondern auch in der Architektur: Heute ist die denkmalgeschützte Fabrikanlage aus Bauhauszeiten denkmalgerecht saniert und bereitet sich auf ihren 100. Geburtstag vor.

In Mössingen lebten vor allem Weber, Textilarbeiter und Handwerker. 1932 wählten 32 Prozent von ihnen die KPD, Von denen wollte sich niemand mit den neuen nationalsozialistischen Machthabern anfreunden und am 31. Januar 1933 fand in Mössingen der einzige Arbeiteraufstand in ganz Deutschland statt, mit dem gegen die Machtergreifung Hitlers demonstriert wurde. Er ging als Mössinger Generalstreik in die Geschichte ein.

Heute ist von solch großer Politik kaum noch etwas zu spüren. Mössingen ist vor allem ein idyllisches Fleckchen zwischen Steinlachtal und Albtrauf und erblüht seit 1992 mit einer unvergleichlichen Mischung bunter Sommerblumen, die weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt sind.

Vor dem Rathaus plätschert ein ebenso idyllischer Brunnen. Er symbolisiert die vier Jahreszeiten: Aus vier Röhren strömt Wasser auf eine Bronzeplatte und fließt als schimmernder Fächer nach unten. Auf den Bronzeplatten des Brunnenrunds markieren Gedichtzeilen von Eduard Mörike, Friedrich Hölderlin und Emmanuel Geibel die vier Jahreszeiten, Figurenreliefs beschreiben die einzelnen Monate.

Den Brunnen hat Fritz Nuss gestaltet, ein 1907 geborener Bildhauer aus Strümpfelbach im Remstal. Nach seiner Ausbildung in Schwäbisch Gmünd fertigte er vor allem klassische Körper mit geschlossenen Konturen und schlichten Posen. Die Skulpturen waren genau das, was den nationalsozialistischen Machthabern gefiel, die Fritz Nuss Aufträge vermittelten und ihn 1943 zum Professor machten. Nach dem Krieg unterrichtete er plastisches Gestalten in Schwäbisch Gmünd. Seine Skulpturen wurden abstrakter und expressiver, Tanz und Bewegung wurden ein wichtiges Gestaltungselement – wie auch auf dem Mössinger Rathausbrunnen.Andrea Bachmann /

Bilder: Sommer

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Erstellt:
22.08.2018, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 22.08.2018, 01:00 Uhr

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