Der Kommentar

Gänsehaut in Krisenzeiten

01.04.2020

Von Angelika Brieschke

Die Tübinger Stiftskirche mit Mond.  Archivbild: Ulrich Metz

Die Tübinger Stiftskirche mit Mond. Archivbild: Ulrich Metz

Wer möchte, hat jeden Abend um 19 Uhr einen festen Termin: Da können auf Vorschlag der evangelischen Kirche alle ein Fenster aufmachen und „Der Mond ist aufgegangen“ singen. – Der Mond ist aufgegangen. Echt jetzt?

Dieses Lied war bisher in meinem Gedächtnis unter Kinder-Schlaflied einsortiert. Direkt neben „La Le Lu, nur der Mann im Mond schaut zu“. Ich singe in einer Kantorei und ich vermisse meinen Chor. Sehr sogar. Und natürlich vermisse ich auch das Singen. Dennoch hatte ich so meine Zweifel, ob mir da „Der Mond ist aufgegangen“ wirklich helfen kann. Aber, dachte ich, die Melodie ist einfach und bekannt und wahrscheinlich kenne ich das Lied gar nicht richtig und es verbirgt sich im Text irgendeine hilfreiche Botschaft. Also googelte ich nach dem Text.

Das hätte ich nicht tun sollen. Denn jetzt taugt dieses Lied nicht mal mehr als harmloses Kinderlied für mich – zu deprimierend.

Wenn ich diese Fenster-Singaktion der evangelischen Kirche richtig verstehe, soll mit dem gemeinsamen Singen eine Verbundenheit zwischen den Menschen entstehen, in diesen Zeiten, wo menschliche Distanzierung oberstes Gebot ist. Eine Art Gänsehaut-Moment für alle. Aber ganz ehrlich: Mir geht da nicht das Herz auf und dann stehen seit Sonntag – seit der Zeitumstellung – gegen 19 Uhr noch nicht mal mehr Sternlein am Himmel.

Da war die Aktion mit der „Ode an die Freude“ schon ganz anders. Am Sonntag vor einer Woche klang um 18 Uhr Beethovens „Freude schöner Götterfunken“ vom Stiftskirchenturm herunter und jeder konnte aus seinem Fenster mitsingen oder -spielen. Ich hatte den Termin eigentlich fast vergessen, weil wir zu weit weg von der Stiftskirche wohnen, um von da aus Musik hören zu können. Als wir aber die Haustür aufmachten, um unseren widerständigen Sohn auf eine Runde an die frische Luft zu schicken, hörten wir einen einsamen Derendinger Trompetenspieler diese Melodie blasen. Das war anrührend.

Ja, es gibt sie auch jetzt, oder vielleicht gerade jetzt: Gänsehaut-Momente. Und sie haben oft mit Musik zu tun. Aber nicht nur: Als Ministerpräsident Winfried Kretschmann vor kurzem verkündete, dass wir französische Schwerst-Infizierte in baden-württembergische Kliniken aufnehmen werden, da dachte ich: Endlich!

Endlich mal ein anderes Signal, als das, was von hochgezogenen Grenzen, explodierenden Infektionszahlen und kleinlichen Klopapier-Panikkäufen ausgeht. Endlich tätige Nachbarschaftshilfe – in Europa. Und wenn wir jetzt endlich Geflüchtete aus diesen unsäglichen Lagern an der türkisch-griechischen Grenze aufnähmen, dann würde ich wieder an das Gute im Menschen glauben.

Meine persönlichen Gänsehaut-Favoriten sind im übrigen die digitalen Botschaften von vielen Klinikbelegschaften, von Rettungsdiensten und der Polizei, in denen sie uns zurufen: „Wir bleiben für Euch da! Bleibt Ihr bitte für uns daheim!“

In diesem Sinne: Bleiben Sie gesund. Und: Bleiben Sie daheim! Angelika Brieschke

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Erstellt:
01.04.2020, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 26sec
zuletzt aktualisiert: 01.04.2020, 01:00 Uhr

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