Sportlich modern

Gomaringer Textilfirma Naturana wird 100 Jahre

26.07.2017

Von Andrea Bachmann

Gomaringer Textilfirma Naturana wird 100 Jahre

„Dich sucht das Glück, dich flieht das Alter, trägst du den EVA-Büstenhalter!“ Was für ein Satz! Mit diesem 1926 erfundenen und anderen viel versprechenden Werbeslogans kann die Gomaringer Miederwarenfirma auf eine 100-jährige Firmengeschichte zurückblicken.

Als der 1876 geborene Firmengründer Karl Dölker lieber als Lehrling in der Corset-Fabrik Schneider & Sohn anheuerte anstatt die väterliche Brauerei zu übernehmen, war es noch vollkommen undenkbar, dass Frauen ihren Körper so wie er nun einmal gewachsen war in der Öffentlichkeit spazieren führten. Der Busen hatte unter dem Kinn zu sitzen, die Taille sollte man mit zwei Händen umfassen können und ein Bauch war überhaupt nicht vorgesehen. Um das hinzubekommen, bedurfte es bretthart gewebten Baumwolldamasts, einer hervorragenden Schnitttechnik und sehr vielen Schnüren, Haken und Ösen.

1899, Carl Dölker war gerade Teilhaber der Öhringer Korsettfabrik Kindler & Cie. geworden, schnitt die französische Korsettmacherin Herminie Cadolle diese weibliche Rüstung in zwei Teile und nannte den oberen Teil „soutien-gorge“: Büstenhalter.

Vier Jahre bevor Carl Dölker 1917 in Gomaringen seine eigene Korsettfabrik gründete, hatte der jüdische Textilfabrikant Sigmund Lindauer in Cannstatt das erste Büstenhaltermodell in Serie gehen lassen.

In den Zwanziger Jahren trugen junge Frauen keine Korsetts mehr, sondern achteten auf ihr Gewicht und zogen hauchdünne BHs der Luxuslinie „EVA“ unter ihre Hängerkleidchen. Für alle, denen das zu gewagt war, entwickelte Dölker in Zusammenarbeit mit einem Stuttgarter Arzt ein „Reformkorsett“, das ohne Schnüre und Metallbügel auskam. „Natura“ hieß diese Miederwarenneuheit, die Dr. Haehl auch Backfischen ans Herz legte, um Fehlentwicklungen im Wachstum vorzubeugen. Dass sich ein weiblicher Körper auch ohne textile Modellierung entwickeln könne, war im Weltbild dieser Herren nicht vorgesehen.

In den 30er-Jahren bekam die Gomaringer Firma einen neuen Namen. “Naturana“ klang natürlich, sportlich und modern und entsprach der neuen Natürlichkeit in der Wäschemode und anderswo: Die deutsche Frau rauchte nicht, schminkte sich nicht und steckte ihre üppigen weiblichen Rundungen in ein sogenanntes „Korselett“, eine Art Body aus einem Baumwolle-Kunstseide-Materialmix, bei dem Gummieinsätze für Bequemlichkeit sorgten.

Als der Krieg vorbei war, konnte man bei Naturana aufhören, Schneehemden für Soldaten zu nähen und sich wieder der weiblichen Brust zuwenden. Die hatte jetzt möglichst spitz zu sein und der Naturana-Plastic-Büstenformer zauberte den angesagten Wirtschaftswundertütenbusen. In Lachsrosa, seit den 30er-Jahren die fast einzig mögliche Farbe für Damenwäsche. Die Kundinnen waren begeistert, Naturana wurde der zweitgrößte von über 80 Miederwarenherstellern in Deutschland und gründete über 50 Näherei-Niederlassungen im Schwarzwald und auf der Schwäbischen Alb – die zwei Jahrzehnte später alle wieder geschlossen wurden, weil die Näherinnen in Portugal, Mauritius oder anderswo mit weniger Lohn zufrieden waren.

1959 wurde die Miedermode durch die Erfindung von elastischen Fasern regelrecht revolutioniert, Lycra hieß das Zauberwort und in den 60er-Jahren avancierte das Drunter zu einer Art modischem Accessoire, das von selbstbewussten Frauen selbstbewusst getragen wurde: Nachdem Unterwäschemodels jahrzehntelang entweder kopflos waren oder sinnend in die Ferne schauten, durften sie jetzt dem Betrachter der Werbeanzeige kess in die Augen schauen.

„Wer den Büstenhalter bejaht und als notwendig erachtet, gilt als konservativ, altmodisch und durch allzu enge Erziehung an die Tradition gebunden“. Die Zeitschrift „Textilwirtschaft“ fand 1973 klare Worte für den Abgesang auf die formenden, stützenden, modellierenden Miederwaren früherer Jahrzehnte. Wer seinen BH nicht gleich verbrennen und oben ohne laufen wollte, fand in vorgeformten, nahtlosen, nahezu unsichtbaren und an Schlichtheit nicht mehr zu überbietenden Modellen einen tragbaren Kompromiss. Ohne Chi-chi und gerne in Weiß und in Baumwolle. Kochfest und unkompliziert. 1982 übernahm Naturana das Wäschelabel „Irma La Douce“ und sorgte damit für ein spitzenbesetztes Kontrastprogramm, gerne in Schwarz.

Man expandierte nach Osteuropa und präsentierte seine Waren sogar in Saudi-Arabien. Mittlerweile produziert Naturana auch Bademoden und Herrenunterwäsche. Mit dem modernen Nachfolger des Reformkorsetts, das jetzt aus Microfaser ist und Shape-Wear heißt, liegt die Firma wieder voll im Trend: Der weibliche Körper muss geformt und modelliert werden, damit er schön genug ist. Fast wie vor 100 Jahren. Andrea Bachmann

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26.07.2017, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 26.07.2017, 01:00 Uhr

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