Provokation bis unter die Haut

Heide Hatry stellt ihre Kunst aus Schlachtabfällen im Tübinger DAI aus

Entenzungen, Hühnerkämme, Schafsohren, Bullenaugen und Schweinehäute: Das sind nur einige der Materialien, aus denen die New Yorker Künstlerin Heide Hatry provokative Kunstwerke erschafft und sie anschließend fotografiert. Eine Auswahl dieser Fotographien stellt sie dem Deutsch-Amerikanischen Institut (DAI) in Tübingen für eine Ausstellung unter dem Titel „Flowers and Faces“ zur Verfügung, die am Dienstag, 19. April, um 19.30 Uhr eröffnet wird.

13.04.2016

Heide Hatry stellt ihre Kunst aus Schlachtabfällen im Tübinger DAI aus

Schweinemast war Tradition, und ihre Zukunft als Metzgerin vom Familienoberhaupt vorbestimmt. Mit 15 verließ Heide Hatry den landwirtschaftlichen Betrieb ihrer Eltern im schwäbischen Holzgerlingen und schrieb sich in einer Sportschule ein. Sie studierte danach Kunst, dann Kunstgeschichte an der Uni Heidelberg, lehrte 15 Jahre lang an einer privaten Kunstschule und führte nebenher ein Buchantiquariat. In New York fand Heide Hatry „zu ihren Wurzeln zurück“. Ihre Projekte und Performances mit Tiermaterial erregten Aufsehen und öffneten ihr die Tür zur internationalen Kunstwelt. Heute wird sie von der Stux+Haller Galerie in New York exklusiv vertreten.

Heide Hatry ist auf verschiedenen Ebenen unterwegs. Mehr als 25 Bücher und Kataloge hat die umtriebige Künstlerin lektoriert oder selbst herausgegeben. Und seit ihrem Umzug nach New York im Jahr 2003 auch zahlreiche Ausstellungen in den USA, Deutschland und Spanien kuratiert, sowie ihre eigenen Arbeiten in Museen und Galerien ausgestellt.

„Not a Rose“ (Keine Rose) heißt ihr zuletzt herausgegebenes Buch, ein Fotozyklus, in dem aus grünem Blattwerk ästhetisch ansprechend geformte Phantasieblüten hervorwachsen. Der sinnliche Eindruck natürlich anmutender Schönheit jedes Bildes stellt sich jedoch als Bluff heraus, denn diese Dokumentation zeigt Blumen, die Hatry aus Körperteilen unterschiedlicher Tierarten angefertigt hat. Die Untertitel, lateinische botanische Namen, die täuschend echt klingen, zählen die Tierkörperteile auf, die sie für die Blumen verwendet hat. Diese Blumen sollen den Kunstliebhaber anregen, sein Realitätsverständnis zu hinterfragen.

Auch in ihrem Projekt „Skin“ („Haut“, 2005) beherrscht die Künstlerin die Klaviatur der Kontraste: In einer Performance durchschreitet sie schneewittchengleich, streng bebrillt und kalten Blickes, auf High Heels zielbewusst den Raum, anmutig blass wirkt ihr Gesicht, umrahmt von schwarzer, im Nacken aufgetürmter Lockenpracht. Den muskulösen Körper umspannt seidenweiß und blutdurchtränkt ein Hochzeitskleid. Die sieben Zwerge hätten vermutlich nichts Gutes zu erwarten. Ein totes Schwein hängt über ihrer Schulter wie ein Sack. Hatry zieht seine Haut ab, um daraus Recht-ecke zu schneiden, mit denen sie einen Innenraum tapeziert.

Was ist der Sinn der Gruselshow, was steckt dahinter? „Ich habe entdeckt, dass mich der Geruch und der nachhaltig physische Gesamteindruck frischer unbehandelter Schweinehaut ungemein ansprechen“, erläutert Hatry. „Denn in diesem Material kommen einzigartige menschliche Züge zum Vorschein - nicht nur bei plastischen Arbeiten, sondern auch auf Fotografien“.

Hatry arbeitet immer mit frischem Material vom Schlachthof, das sie entweder photographisch dokumentiert oder mit verschiedenen Methoden präpariert. Sie verwendet auch Gunther von Hagens Technik der Plastination. Dabei entzieht sie der Haut die flüssigen Inhalte in einem Vakuum und füllt die Hohlräume mit Silikon auf. Die oft dreidimensionalen Haut-Objekte werden von ihr meist als Fotodokumentationen in kleinen Auflagen vervielfältigt und verkauft.

„Ein Werk muss einem in den Nacken springen und beim Betrachter ein intensives Gefühl auslösen“, beschreibt die Künstlerin ihre Vorstellung von der Interaktion zwischen Kunstwerk und Betrachter. Durch gezielte Provokation will sie ihr Publikum dazu bringen, über selbstverständlich erscheinende Dinge nachzudenken. „In unserem Alltag sind wir, mehr als uns oft bewusst ist, von toten Tieren umgeben. Viele Produkte werden aus Tierhaut hergestellt, aber da man den Prozess dieser Verwandlung in der Regel nicht miterlebt, macht sich kaum jemand klar, dass seine Lederjacke oder seine Schuhe aus einem toten Tier angefertigt wurden.“

Die Arbeit mit Material, das menschlicher Haut ähnlich sieht, erregt oft Anstoß und löst starke Emotionen aus. Heide Hatry verbrachte ihre Kindheit auf einem Großbetrieb mit mehr als 1000 Mastschweinen: „Nach 25 Jahren hatte ich aber völlig vergessen, dass ich jahrelang tote Schweine in Stücke geschnitten, sie eingetütet, beschriftet und die Päckchen im Gefrierraum sortiert habe.“ Ihre erste künstlerische Arbeit mit Haut erfuhr sie als Katharsis, und stellte dabei fest, dass ihr das Material wahnsinnig gut gefällt: „Denn damit kann ich genau die Themen ausdrücken, die mir wichtig sind: Leben, Schmerz, Verletzungen, Altern, Tod und eine Vielzahl von abstrakteren Dingen wie Identität, Machtverhältnisse, Verletzlichkeit und der ganze Bereich von sinnlicher Wahrnehmung selber.“

Heide Hatrys Kunst kommt gut an im Großstadtdschungel von New York, der Stadt der verrückten Superlative. Merkwürdig berühre es die Schlachter aber trotzdem, lässt Hatry beim Podiumsgespräch in ihrer New Yorker Lieblingsbuchhandlung Stand wissen, wenn sie zum Beispiel ungewöhnliche Körperteile wie Geschlechtsorgane von Tieren bestellt. Dann bleibt es oft nicht beim schrägen Metzgerblick, sondern man verweigere ihr schlicht, das „Material“, das nicht mal für Wurst verwendet wird, herauszugeben. Sie nimmt’s gelassen und hat inzwischen Metzger gefunden, die ihre Arbeit schätzen und ihr alles, was sie dafür braucht, zur Verfügung stellen.

Hatry kennt die Bedingungen der Massentierhaltung, und möchte den Tieren posthum eine gewisse Würde verleihen. Die Betrachter darauf aufmerksam zu machen, dass „wir in einer bereits ernstlich verwundeten Umwelt leben und trotzdem weiterhin Raubbau betreiben“, steht für sie im Fokus ihrer Botschaft.

Umweltbewusstsein ist oft Hatrys Thema. So konnte man z.B. in ihrer Ausstellung zur Ölkatastrophe von 2010 (verursacht durch den BP-Konzern) Skulpturen sehen, die nicht einfach zu verdauen waren: Sie hat dafür tote Tiere vom Straßenrand gesammelt, dann präpariert und danach mit Altöl und Teer übergossen. „Durch unsere sinnliche Wahrnehmung können wir lernen, als bewusste, in Beziehung zueinander und zur Umwelt stehende Individuen auf jeder Ebene menschlich zu handeln“, wünscht sich Heide Hatry.

Fleisch auf ihrem Speiseplan vermisst die überzeugte Vegetarierin nicht, denn die kulinarische Vielfalt New Yorker Restaurants und Supermärkte lässt keine Wünsche offen. Außer einem Einzigen, dem nach ihrem Lieblingssnack: deutsche Erdnussflips. Claudia Zimmer

Die Ausstellung ist bis zum 17. Juni jeweils zwischen Dienstag und Freitag von 9 bis 18 Uhr im Tübinger DAI (Karl-straße 3) zu sehen.

Zusätzlich ist die Ausstellung am Samstag, 30. April, und am Samstag, 4. Juni, jeweils von 10 bis 14 Uhr geöffnet.

Der Eintritt ist frei.

www.heidehatry.com

Beim Artist Talk am Mittwoch, 20. April, wird Heide Hatry ab 19.30 Uhr im DAI über ihre Kunst sprechen. Bild: Zimmer

Beim Artist Talk am Mittwoch, 20. April, wird Heide Hatry ab 19.30 Uhr im DAI über ihre Kunst sprechen. Bild: Zimmer

Heide Hatry bringt mit Schweinehaut menschliche Züge zum Vorschein. Bild: Hatry

Heide Hatry bringt mit Schweinehaut menschliche Züge zum Vorschein. Bild: Hatry

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13.04.2016, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 13.04.2016, 01:00 Uhr

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