Fassade als Treppe ins Licht

Illusionskunst von Annett Zinsmeister in Tübingen

„Ich drehe immer alles um, spiegele es, kehre das Positive ins Negative und umgekehrt“, erklärt Annett Zinsmeister. Die Berliner Künstlerin steht im Tübinger Philosophenweg vor der Kunsthalle und blickt auf das Haus gegenüber. Das ist ihr neues Projekt, das sie für die Reihe „Außer Haus“ der Kunsthalle Tübingen realisiert hat.

16.06.2021

Vorsicht! Vom Oktagon im Tübinger Philosophenweg geht eine magnetische Sogwirkung aus.

Vorsicht! Vom Oktagon im Tübinger Philosophenweg geht eine magnetische Sogwirkung aus.

Tübingen. Die fensterlosen Fassaden des achteckigen Hauses, die normalerweise eine graue, geriffelte Oberfläche aufweisen, ziehen die Betrachterin jetzt mit magnetischer Sogwirkung in ebenfalls achteckige Tunnel hinein, wahlweise tiefschwarz oder lichtweiß. Ein Schwindel erregendes Trompe l’oeil, faszinierend, Furcht erregend, cool, witzig. Eine Geisterbahn im minimalistischen Chic geometrischer Akkuratesse. Illusionskunst am Bau.

Die beiden Oktagone im Philosophenweg sind Ende der 60er-Jahre als Teil der auf der Wanne geplanten grünen Satellitenstadt entstanden. Die Architekten waren Otto Jäger und Werner Müller, die 1969 die Wohnhochhäuser im Asemwald bei Stuttgart gebaut haben – damals eine Vision modernen Städtebaus. Man träumte von gemeinsamem Leben und internationalem Flair. In einem der Gebäude waren zu Beginn ein Hotel und eine schicke Bar untergebracht. Was zunächst hip und zeitgemäß erschien, galt allerdings bald als Bausünde oder seelenlose Bettenburg. Das ändert sich gerade wieder. Solche Architektur gilt mittlerweile als eigenwillig und man kann diesem modernistischen Experiment der 60er-Jahre plötzlich wieder etwas abgewinnen.

Annett Zinsmeister interessiert sich dafür, wie Raum wahrgenommen wird. Wie Kunst und Architektur zusammen gedacht werden können. Welche Emotionen diese Gebäude wecken. „Wir können das Haus scheußlich finden oder cool – aber für die Menschen, die darin wohnen, ist es in erster Linie einfach ihr Zuhause“, stellt die Künstlerin fest.

Für die Bewohner und Bewohnerinnen ist das Haus mehr als nur die Fassade. Sie nehmen auch das Innen wahr, genießen die Aussicht aus den von außen so verschlossen wirkenden Fenstern, begegnen einander im Treppenhaus. Dieses Treppenhaus hat es in sich. Wer im Erdgeschoss steht und nach oben blickt, fühlt sich wie im Innern eines Korkenziehers. Oder in der Kulisse eines Science-Fiction-Films der 60er-Jahre. Annett Zinsmeister, selbst bekennender Science-Fiction-Fan, war sofort fasziniert.

Jetzt ist das Treppenhaus Teil der Fassade. Der Blick geht nicht mehr von unten nach oben, sondern von außen nach innen, einmal ins Dunkel, dann wieder ins Licht. Die Fassade bringt den privaten Raum in die Öffentlichkeit. Der gelbe Anstrich, die Holzvertäfelung, das Plastikblumenbild, all dieser Retro-Charme weicht einer abstrahierten, unbunten, streng formalen Spielerei. Annett Zinsmeister erweist sich als eine Meisterin der ästhetischen Analyse von Raum.

Die besondere Architektur des Gebäudes wird gleichzeitig verfremdet und sichtbar gemacht: Nur im Treppenhaus und aus der Vogelperspektive nimmt man die achteckige Form des Hauses tatsächlich wahr. Indem die Künstlerin eine Raumillusion erzeugt, zeigt sie gleichzeitig das, was ist. Sie verfremdet, um Sichtbarkeit zu schaffen.

Nicole Fritz, Kunsthallenleiterin und Kuratorin des Projekts „Außer Haus“, sieht auch Parallelen zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie: „Dass Architektur sich nach außen verschließt, wurde in den letzten Monaten besonders deutlich, weil die Grenze zwischen innen und außen so deutlich wahrnehmbar wurde.“ Annett Zinsmeister hat jetzt das Innen nach außen gestülpt.

Ein Jahr lang werden die 20 mal 20 Meter großen Kunststoffplanen an der Fassade des Hauses im Philosophenwegs zu sehen sein. Das Kunstwerk ist eng mit dem Gebäude verknüpft. Aber die Plane ist extrem haltbar, sodass man damit anschließend weiter arbeiten kann. „Außer Haus“ ist sicherlich eine ortsspezifische Arbeit. Aber es wäre durchaus möglich, einen Ort an einen anderen zu bringen. Annett Zinsmeister kann sich vorstellen, die Prozesse des Umkehrens und Umdrehens noch weiter zu steigern. Andrea Bachmann

Annett Zinsmeister interessiert sich für die Emotionen, die Gebäude wecken. Bilder: Andrea Bachmann

Annett Zinsmeister interessiert sich für die Emotionen, die Gebäude wecken. Bilder: Andrea Bachmann

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Erstellt:
16.06.2021, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 16.06.2021, 01:00 Uhr

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