Aus der Luft und zu Fuß (46)

Oberndorf

19.09.2018

Von Amdrea Bachmann / Bilder: Erich Sommer

Oberndorf

In einer Beschreibung des Oberamts Herrenberg, die 1855 vom „Königlichen statistisch-topographischen Bureau“ in Stuttgart herausgegeben wurde, wird das auf einer flachen Anhöhe zwischen Ammer- und Neckartal gelegene Oberndorf vor allem wegen seiner sehr schönen Lage gelobt. Freundlich sehe es aus mit seinen Obstbaumwiesen und den Tannen im Hintergrund, aber leider seien die Häuser alle in einem erbärmlichen Zustand und die Bevölkerung bettelarm.

Die unansehnlichen Häuser sind verschwunden, das Dorf ist größer und wohlhabender geworden. Geblieben ist die attraktive landschaftliche Umgebung und ein idyllischer Dorfkern. Mitten im Dorf ist die sogenannte Wette, ein Teich, der sich aus dem Wasser einer Quelle speist, die oberhalb der Kirche entspringt. Diese Quelle ist vermutlich der Anfang von Oberndorf, das übrigens 1292 zum ersten Mal in einer Urkunde erwähnt wird. Die Wette war der Brauchwasserlieferant für die hier lebenden Menschen, man brachte das Vieh zur Tränke, wusch seine Wäsche und wenn es brannte, holte man hier das Wasser zum Löschen. Die Wette ist immer noch ein Löschteich, dessen Wasser über einen Hydranten entnommen werden kann.

Die Kirche auf der Nordseite des Platzes liegt wirklich mitten im Dorf und ist der bauliche Höhepunkt des Ortsbildes. Sie ist aus einer Kapelle entstanden, die um 1430 gebaut wurde. Der Chor mit seinen einfachen, maßwerklosen Fenstern stammt noch aus dieser Zeit. Er ist für einen Kapellenchor ausgesprochen groß, licht und bei aller Schlichtheit äußerst qualitätvoll ausgestattet. Der Hochaltar gehört sogar zu den schönsten und wichtigsten Werken sakraler Kunst in der Region. Vermutlich wurde er zu Beginn des 16. Jahrhunderts in einer oberrheinischen Werkstatt angefertigt. Da die sakralen Bildwerke zwischen Rottenburg und Reutlingen um 1500 hauptsächlich von Ulmer Meistern stammen, fällt er als besonders ungewöhnlich auf. Das gesamte Kunstwerk ist so kostbar und aufwändig gestaltet, dass man lange Zeit annahm, es gehöre zum Kloster Bebenhausen und sei in den Wirren der Reformationszeit nach Oberndorf gerettet worden. Dann aber hätte Bernhard von Clairvaux oder irgendein anderer wichtiger Ordensheiliger den Altar zieren müssen, was aber nicht der Fall ist. Außerdem passt der Altar so perfekt in den Chorraum, dass man schon deshalb annehmen kann, er sei für diesen gemacht worden.

Was eigentlich erstaunlich ist, denn Oberndorf bildete seit dem 13. Jahrhundert einen Herrschaftsbezirk mit Poltringen und war dort einfach das „obere Dorf“, das die Pfalzgrafen von Tübingen 1292 an das Kloster Bebenhausen veräußern. Die Oberndorfer waren nach Poltringen eingepfarrt und marschierten allsonntäglich die gute halbe Stunde nach St. Stephan zur Messe. Erst im Spätmittelalter spendierte der Vogtherr Rudolf von Ehingen den Oberndorfern eine wirklich schöne Kapelle.

Aufgrund hochkomplizierter Besitzverhältnisse stritt man sich in Oberndorf von der Einführung der Reformation 1534 bis 1791 um den wahren Glauben und lebte in einer Art vormodernen Ökumene, wobei für die Katholiken die Seelsorge in Poltringen zuständig war und sie die Kirche nur als Kapelle nutzen konnten. Dann drohte die Oberndorfer Bevölkerung geschlossen, zum neuen Glauben überzutreten, wenn man für die schöne Kapelle keinen Pfarrer engagieren würde. Nachdem es bereits vorgekommen war, dass der Pfarrer aus Poltringen es nicht mehr rechtzeitig an ein Sterbebett geschafft hatte und ein Neugeborenes auf dem Weg zur Taufe erfroren war, hatten die Oberndorfer einfach genug von dem konfessionellen Durcheinander.

Das allerdings gibt es heute wieder: In der katholischen Kirche feiern die evangelischen Oberndorfer ganz selbstverständlich Konfirmation. Andrea Bachmann / Bilder: Erich Sommer

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Erstellt:
19.09.2018, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 19.09.2018, 01:00 Uhr

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