Aus der Luft und zu Fuß (43)

Nehren

29.08.2018

Von Andrea Bachmann / Bilder: Erich Sommer

Nehren

Um die breiten, ebenen und wohlgekandelten Straßen stehen, von Hofräumen unterbrochen, ziemlich regelmäßig die tüchtigen Bauernhäuser, mit den Giebeln meist gegen die Straße gekehrt.“ Die Oberamtsbeschreibung von 1867 gilt heute noch. Mit einem kleinen Unterschied: während ihr Verfasser vor 150 Jahren einfach nur ein properes Bauerndorf vor sich sah, liegt Nehren heute an der deutschen Fachwerkstraße und der Ortskern ist denkmalgeschützt. Die schön gestaffelten Fachwerkhäuser und die gut erhaltenen Gehöfte bilden gemeinsam ein einmalig gut erhaltenes, in sich geschlossenes Ortsbild.

Dabei besteht Nehren eigentlich aus zwei Dörfern. Um 1100 werden die beiden Siedlungen Hauchlingen und Nehren zum ersten Mal in einer Urkunde erwähnt, tatsächlich sind sie aber viel älter – schon vor 6000 Jahren haben hier anscheinend Menschen gelebt, wie der Fund eines Steinbeils aus der Jungsteinzeit beweist.

Die beiden Straßendörfer wuchsen zusammen und 1504 wurden die Orte zusammen gelegt. Man kam überein, dass Nehren „in die pfarrkirchen unseres fleckens Huchlingen verordnet, angehengt und incorporiert“ werde. Diese spätmittelalterliche Gemeindefusion hatte vor allem praktische Gründe: Das kirchenlose Nehren gehörte zur Pfarrei Ofterdingen. Dorthin war der Weg weit, vor allem, wenn es sich um den letzten Gang eines Nehreners handelte: noch heute heißt ein Weg Richtung Ofterdingen „Totenweg“. Am 19. Februar 1504 war damit endlich Schluss, Nehren kam zur Pfarrei Hauchlingen und die Nehrener konnten allsonntäglich in die 1430 erbaute Veitskirche gehen. Das scheint der Pfarrei auch wirtschaftlich gut getan zu haben: 1511 wurde der Turm um zwei Geschosse erhöht und ein Jahr später erhielt er den außergewöhnlichen zweistöckigen Fachwerkaufsatz. Man goss auch eine neue Glocke, die noch heute erhalten ist.

Jetzt war die Kirche von weit her sicht- und hörbar und konnte von all den Gläubigen leicht gefunden werden, die eine Wallfahrt zum heiligen Vitus unternahmen. Der heilige Vitus war ein spätantiker Knabe, der allen Anfechtungen zum Trotz seinen christlichen Glauben bis in den Tod verteidigte und nebenbei den kleinen Sohn des Kaisers Diokletian heilte, der an einer seltsamen Nervenkrankheit mit unkontrollierten Bewegungen litt.

Deshalb wurde er zum Schutzheiligen für alle Arten von Anfallserkrankungen, die man zum Teil nach ihm „Veitstanz“ nannte. In der Kirche wurde ein wundertätiges Abbild des heiligen Vitus aufbewahrt, das helfen sollte, diese Krankheit zu heilen oder vor allem Kinder vor ihr zu schützen. Selbst nach der Reformation wollten die Gläubigen nicht auf die fromme Prophylaxe verzichten und 1554 stellte die evangelische Kirchenbehörde in Stuttgart die Wallfahrt unter Strafe. Aber noch 1890 waren zwei hölzerne „Veitle“ in der Kirche vorhanden – wer wollte schon so genau wissen, ob sie nicht doch zu etwas gut waren?

Nach dem Gottesdienst ging es in den Schwanen. Das wunderschöne Gasthaus war viele Jahre lang Mittelpunkt dorfgesellschaftlichen Lebens – bis wachsende Mobilität, Fernsehen und Internet den Stammtisch als wichtigste Nachrichtenzentrale entbehrlich machten. Nachdem 2012 wieder eine Wirtin das Handtuch und den Kochlöffel hinwarf, sollte der Dorfgasthof sogar abgerissen werden. Aber da besannen sich die Nehrener auf wahre Werte, gründeten eine Genossenschaft und in einem großartigen Gemeinschaftsprojekt wurde der alte Gasthof von den Bürgerinnen und Bürgern saniert – entweder durch das Zeichnen von Genossenschaftsanteilen oder durch Mitarbeit am Bau. Im Oktober 2017 konnte der Gasthof wieder eröffnet werden und jetzt kann man in dem 2,5 Millionen Euro teuren Sanierungsprojekt wieder essen, kulturelle Veranstaltungen besuchen und sogar in den sechs liebevoll gestalteten Hotelzimmern übernachten. Andrea Bachmann / Bilder: Sommer

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Erstellt:
29.08.2018, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 29.08.2018, 01:00 Uhr

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