An die Müßiggänger dieser Stadt

Von der Schwarzwälder Kirschtorte bis zur Bürgerinitiative fürs Café Völter – Tübinger Kaffeehausges

25.11.2020

Das Café Lunette begann mal als Café Bausch in der Tübinger Neuen Gasse. Bild: Andrea Bachmann

Das Café Lunette begann mal als Café Bausch in der Tübinger Neuen Gasse. Bild: Andrea Bachmann

An alle Liebhaber, Rentner, Zeitungsleser und Selberpoeten, an die schönen Frauen und die anmutigen jungen Herren mit der halblauten Philosophie, an die feinen alten Damen, die Professoren(-Gattinnen), Oberschüler und Lehrjungen, Vertreter und Rechtsanwälte, Geschäftspartner, Schauspieler, an alle, die ihre Arbeit unterbrechen und an die Müßiggänger dieser Stadt!“

Mit dieser schönen Anrede begann der Aufruf der Bürgerinitiative „Rettet das Café Völter“, die zu Beginn der 1980er-Jahre die Schließung eines Betriebes verhindern wollte, der am ehesten dem entsprach, was man sich in Tübingen unter einem Kaffeehaus vorstellte. Die Zielgruppe hatte die Bürgerinitiative – die als Trostpflaster übrigens das Café Hirsch erhielt, wo man noch heute an den original Marmortischen aus dem Café Völter sitzt – jedenfalls perfekt erfasst: Menschen mit ausreichend Geld und Tagesfreizeit, für die der Besuch eines Etablissements, in dem koffeinhaltige Heißgetränke serviert werden, eine ebenso willkommene wie alltägliche Abwechslung ist. Von denen gab es in Tübingen jede Menge und deshalb gab es auch viele Cafés. Oder Konditoreien. Zwischen Neckarbrücke und Marktplatz konnte man vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einer Kaffeetasse in die andere fallen.

Konditorei-Cafés sind eine sehr deutsche Spezialität. In keinem anderen Land hat sich diese nachmittägliche Zwischenmahlzeit aus Kaffee und Kuchen so durchgesetzt, dass sich daraus eine spezielle Gastronomieform entwickelt hat.

Das erste Kaffeehaus auf europäischem Boden wurde 1554 in Konstantinopel eröffnet. 1647 folgte das berühmte Café Florian in Venedig. Das erste deutsche Kaffeehaus war 1673 das „Schütting“ in Bremen. 1694 zog Leipzig mit dem berühmten Zimmermannschen Kaffeehaus nach, dessen koffeinhaltigen Aufgussgetränke keinen Geringeren als Johann Sebastian Bach zu musikalischen Sternstunden stimuliert haben sollen.

In Deutschland trank man Kaffee jedoch vor allem zu Hause. Bald ersetzte die Einladung zu Kaffee und Kuchen die Einladung zum Essen. Vor allem Frauen entdeckten das „Kaffeekränzchen“, das 1715 zum ersten Mal erwähnt wird, als Möglichkeit gesellschaftlichen Miteinanders. Konditoreien und Zuckerbäcker etablierten sich daraufhin als öffentlicher Rahmen für diese Kaffeetafel – auch in Tübingen, wo 1836 in der Neckargasse ein Café Feucht existierte.

Hier verbrachten Frauen ihre Freizeit – zumindest die, die welche hatten! Das war neu und verlangte nach einem stilvollen Rahmen. 1908 eröffneten Pauline und Otto Bausch in der Neuen Straße eine kleine, exklusive Konditorei mit einer wunderschönen Inneneinrichtung aus kanadischer Buche und anderen ausgefallenen Holzarten mit modischen Art-Déco-Elementen. Die hatten sie auf der Weltausstellung in Paris gesehen und nacharbeiten lassen. Nach einem Intermezzo mit Antiquariat und Optiker bewirtschaften jetzt die Schwestern Bettina Schwarz und Natascha François das denkmalgeschützte „Café Lunette“ und servieren dort speziell gemischten Kaffee aus einer kleinen Rösterei in Freudenstadt und feine Pâtisserien. Die gab es in den 1920er-Jahren auch im Café Spiess am Schulberg. Der Pächter Emil Brennenstuhl bot nicht nur feine und feinste Konditoreiwaren, echte Schweizer und Riviera-Spezilitäten an, sondern auch ein sogenanntes Damenzimmer, einen separaten Raum, in dem sich die Tübingerinnen – „unbelästigt vom Rauchqualm und Zuhörern“ – zum Damenkränzchen trafen.

In den 1920er-Jahren brachte zudem eine technische Neuerung frischen Schwung in die Backstuben: Der Kühlschrank sorgte dafür, dass die leichte, luftige Schlagsahne der mächtigen Buttercreme den Rang ablief. 1930 präsentierte Erwin Hildenbrand aus der königlichen Hofkonditorei Walz in der Kirchgasse einen Traum aus Schokoladenbiskuit, Kirschen und Schlagsahne, dem er mit einem ordentlichen Schuss Kirschwasser den nötigen Pep verlieh. Seine „Schwarzwälder Kirschtorte“ sollte zum internationalen Synonym für deutsche Dessertkunst avancieren.

In den 1960er-Jahren war es vorbei mit tortenlastiger Behaglichkeit und dem Kaffee im Kännchen lief der Espresso den Rang ab: 1959 eröffnete in der Hafengasse das „Hanseatica“, dessen Kaffee aus der allerersten Siebträgermaschine Tübingens im Stehen getrunken wurde. Das Stehcafé mit den Tischen aus Marmorimitat-Resopal und den mit Dekofix beklebten Säulen galt als der Ort mit der höchsten Professorendichte außerhalb der Universität. Auch den wissenschaftlichen Nachwuchs konnte man hier antreffen: Schüler/innen und Studierende zahlen noch heute für die Tasse Kaffee einen Spezialpreis, was das „Café Senkrecht“ zum bevorzugten Ort für Hohlstunden und solche, die es sein sollten, werden ließ. Andrea Bachmann

All das und noch viel mehr Geschichten um Cafés und Konditoreien in Tübingen gibt es auf Stadtführungen zur Kaffeehausgeschichte zur ChocoZeit: www.chocolart.de/kaffeehausgeschichten

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Erstellt:
25.11.2020, 01:00 Uhr
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zuletzt aktualisiert: 25.11.2020, 01:00 Uhr

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