Lateinische Metzig

„Zergliederung von Leichen“ in Tübingen

05.10.2016

„Zergliederung von Leichen“ in Tübingen

Fünf Jahre nach Gründung der Universität Tübingen hält der Leiter der medizinischen Fakultät, Doktor Johannes Maius, endlich ein ersehntes Dokument in den Händen: Ein päpstliches Breve, das ihm die „Zergliederung von Leichen“ im Rahmen der medizinischen Ausbildung erlaubt. Endlich dürfen Mediziner einen Blick in das Innere des menschlichen Körpers tun. Viele Menschen sind es allerdings nicht, die noch nach ihrem Tod der Wissenschaft einen Dienst erweisen und so können die ersten Sektionen problemlos im Auditorium medicum der Sapienz neben der Stiftskirche stattfinden, bis diese 1534 ein Raub der Flammen wird. Maius‘ Nachfolger, Doktor Leonhard Fuchs, muss sich auf die Suche nach einem neuen anatomischen Theater machen und wird in der Unterstadt, neben der Jakobuskirche, fündig: Die kleine Konradskapelle, die nicht mehr benutzt wird, seit der Friedhof in den Bereich hinter der Ammer verlegt wurde, erscheint ihm wegen der guten Lichtverhältnisse und der angenehmen Raumhöhe besonders geeignet – aber es werden noch über dreißig Jahre vergehen, bevor man sich entschließen kann, die kleine Kapelle als anatomischen Demonstrationsraum zu verwenden.

In der Zwischenzeit macht die medizinische Ausbildung in Tübingen weitere Fortschritte: 1546 kauft die Universität dem Stuttgarter Apotheker Ciriacus Horn ein Skelett ab, das aus der Werkstatt des flämischen Anatomen und Leibarzt von Kaiser Karl V., Andreas Vesalius, stammt. Dessen berühmtes anatomisches Lehrbuch „De corporis humani fabrica“ verwendet Leonhard Fuchs auch als Grundlage für ein eigenes Anatomiebuch, das er in Tübingen unter dem gleichen Titel 1551 herausgibt. Sieben Jahre später kann er durchsetzen, dass die anatomische Sammlung der Universität in einer Stube im ehemaligen Franziskanerkloster in der Barfüßergasse ausgestellt werden kann.

Fast 300 Jahre, bis 1835, diente das Kirchlein in der Unterstadt, von den Nachbarn als „Lateinische Metzig“ abgestempelt, als anatomisches Theater, 1696 leistete man sich sogar einen dementsprechenden Umbau und fühlte sich danach fast wie in Padua – wenn auch nur fast.

Sektionen und anatomische Vorlesungen waren eine seltene Chance. Bis Herzog Carl Eugen auch der Sektion erfrorener Bettler zustimmte, wenn diese anschließend anständig, ehrlich und christlich bestattet wurden, war man auf die sterblichen Überreste hingerichteter Verbrecher angewiesen und konnte darüber hinaus aus praktischen Gründen die anatomischen Veranstaltungen nur im Winter abhalten. Es spricht für die Rechtsprechung im Herzogtum Württemberg, dass oft jahrelang keine Sektion stattfinden konnte. Erst im 18. Jahrhundert fanden einigermaßen regelmäßige Sezierübungen statt.

Im 19. Jahrhundert erwies sich das Anatomiekirchle als zu klein. Die Universität wuchs und mit ihr auch die Anzahl der Medizinstudenten. 1835 wurde deshalb nach jahrelangen Planungen, langer Standortsuche und zweijähriger Bauzeit ein neues Anatomiegebäude auf dem Österberg eröffnet. Nachdem man jahrhundertelang mit der kleinen Kapelle hatte vorlieb nehmen müssen, traute sich die Universität allerdings keine ganz große Lösung zu und baute zunächst in schwäbischer Bescheidenheit, nur um in den folgenden 150 Jahren immer wieder neue Gebäudeteile anzuflicken, zuletzt einen neuen Präpariersaal im Jahr 1962, den man spöttisch die Hutschachtel nannte. Immerhin ließ sich dem allmählich gewachsenen Bau viel persönlicher Charme zusprechen. Heute steht er unter Ensembleschutz und beherbergt immer noch die Bereiche Neuroanatomie und Klinische Anatomie.

Am 7. Oktober 2000 weihte man feierlich eine neue Anatomie auf dem Schnarrenberg ein. In dem Gebäude befindet sich ein Kompetenzzentrum für klinische Anatomie, das über die medizinische Ausbildung hinaus auch zur Entwicklung neuer Operationsverfahren zur Verfügung steht. Andrea Bachmann

Zum Artikel

Erstellt:
05.10.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 45sec
zuletzt aktualisiert: 05.10.2016, 01:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen